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Wachkoma: Intensivere Betreuung der Patienten  
  Langzeit-Komapatienten sollen intensiver betreut und überwacht werden. Ein neues Wiener Betreuungsmodell sieht vor, dass Patienten mit schweren Schädel-Hirn-Verletzungen über Monate überprüft werden. Denn die Forschung zeigt, dass die Patienten trotz tiefer Bewusstlosigkeit zu Verbesserungen und manchmal sogar zur Kommunikation fähig sind.  
Das Wiener Betreuungsmodell sieht drei Phasen vor: Zunächst soll der Patient die ersten sechs bis zehn Wochen intensiv überwacht werden.
Regelmäßige Untersuchungen in Folge
Wenn keine Rehabilitationsmöglichkeiten erkennbar sind, soll er trotzdem nach drei Monaten erneut überprüft und danach immer wieder in regelmäßigen Abständen intensivst untersucht werden.

"Damit soll sichergestellt werden, dass man Effekte von Späterholung nicht übersieht", sagt Ernst Berger von der Neurologischen Abteilung für Kinder und Jugendliche am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel in Wien.
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Wachkoma - das apallische Syndrom
In seiner ursprünglichen Form wurde unter dem so genannten apallischen Syndrom ein Erlöschen des Selbstbewusstseins und der Kontaktfähigkeit verstanden. Der Patient atmet stabil und selbstständig, die Augen starren ins Leere, er kann nichts fixieren, es gibt keine sinnvollen Reaktionen auf Berührung, auf visuelle oder Schmerzreize, kein zielgerichtetes Verhalten.

Im Amerikanischen spricht man vom vegetativen Zustand, die Lebensform des Patienten wird als primitiv angesehen, vom "menschlichen Gemüse" ist die Rede. Die neuere Forschung geht aber von der Dialogfähigkeit des Apallikers aus und stützt sich auf Erkenntnisse aus der Säuglingsforschung.
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Unerwartete Besserung noch nach Jahren
Paul Schönle erforscht an den Kliniken Schmieder in Allensbach bei Konstanz was im Inneren der Apalliker - der Schwerst-Hirngeschädigten - vorgeht. "Ich überblicke jetzt drei Jahre - und da zeigt sich, dass es durchaus Patienten gibt, die noch dramatische Verbesserungen zeigen", so Schönle.

"Ich habe erlebt, dass Patienten nach zwei Jahren einfach zu sprechen beginnen, obwohl das niemand mehr erwartet hätte. Und dass Patienten plötzlich mit der Umwelt agieren können", berichtet der Mediziner.

Das zeige, dass die Zeitspanne, in der die Patienten beobachtet werden, viel länger sein müsse als bisher. "Ich halte das für den brutalsten Zustand, wenn ich mir vorstelle, ich bin wach und keiner merkt es", meint Schönle.
Neun von zehn Patienten "zurückgeholt"
Es ist schwer zu sagen, wie viele Komapatienten wieder zurückgeholt werden können. "Eine Studie zeigt, dass neun von zehn Patienten in einen wachen Zustand kommen", erläutert Andreas Zieger von der Neurochirurgischen Klinik am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg.

"Die Patienten können vor dem gefürchteten Dauerkoma bewahrt werden, wenn mit ihnen von Anfang an konsequent ein Verständigungscode aufgebaut wird und zwar mittels Augenschluss, Händedruck oder mit einem Buzzer." Ein Buzzer ist ein kleiner Pieper, dessen Ton durch Knopfdruck ausgelöst werden kann.
Laufen trotz Koma
60 Prozent der hirnverletzten Patienten haben eine gute Möglichkeit, wieder schulisch und beruflich eingegliedert zu werden, schreibt Wolfgang Gobiet in dem Buch "Frührehabilitation nach Schädel-Hirn-Trauma".

Die Rückkehr ist aber nur selten wirklich so genau quantifizierbar. Viele Fortschritte sind für den Laien gar nicht zu bemerken, wenngleich sie am Apparat belegt werden können. Aber allein das ist Grund genug, die Betreuung zu verändern.

Am Geriatriezentrum Wienerwald laufen derzeit erste Versuch mit einem Laufband. Damit soll die Gangmotorik der Patienten etabliert und ihre Wachheit angeregt werden. Unbestritten sind die stimulierende Wirkung von Musik und Berührungen.
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Österreichische Wachkoma Gesellschaft
Johann Donis vom Geriatriezentrum am Wienerwald hat erkannt, dass die Langzeitförderpflege von Patienten im Wachkoma besonders wichtig ist. Er gründete im Mai 2001 gemeinsam mit Angehörigen die Österreichische Wachkoma Gesellschaft. Zum einen, um das Wissen über das Apallische Syndrom zu verbessern und zum anderen, um die Patienten besser zu betreuen.

Derzeit sind 25 Patienten auf seiner Station, das ist österreichweit die größte Gruppe von Apallikern. Die Station ist zwar an der Geriatrie angesiedelt, die Patienten sind aber zwischen 21 und 57 Jahre alt.
->   Österreichische Wachkoma Gesellschaft
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"Der Kaffee ist zu heiß zum Fliegen"
Erst in den vergangenen Jahren wurde es dank neuer Untersuchungstechniken möglich, die Hirnpotentiale von Wachkoma-Patienten sichtbar zu machen.

Paul Schönle fand heraus, dass einige Wachkoma-Patienten sogar zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen unterscheiden können. Sein Beispiel: Der Kaffee ist zu heiß zum Fliegen.

"Wenn die Patienten so blödsinnige Sätze hören, reagiert das Gehirn elektrisch in ganz spezifischer Weise. Wir wissen daher, dass die Patienten Sprache verstehen - und das ist die höchste Form der kognitiven Verarbeitung", erläutert der Mediziner.
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Innsbrucker schuf Grundlagen der Rehabilitation
Der Innsbrucker Neurologe Franz Gerstenbrand war der erste, der erkannt hat, dass die Apalliker nicht hirntot sind, sondern Stadien der Verbesserung aufzeigen. Er legte mit seinen Arbeiten aus dem Jahre 1967 die Grundlagen für eine moderne Rehabilitation.

Heute wendet er die Erkenntnisse der Raumfahrt an, um gegen den Muskelschwund der Bewusstlosen anzukämpfen. Er entwickelte außerdem einen Schuh, mit dem die Fußsohlen der Apalliker stimuliert werden sollen.
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Missstände in Deutschland
Im Nachbarland Deutschland dagegen ist die Situation für Wachkoma-Patienten nicht sehr rosig, wie Andreas Zieger vom Krankenhaus Oldenburg erläutert.

"In Norddeutschland zum Beispiel erhalten 57 Prozent aller Patienten im apallischen Syndrom keinerlei Chance zur Rehabilitation, und wenn, dann durchschnittlich nur für zwei bis drei Monate", fasst er die Situation zusammen.

Die meisten Kranken kommen demnach schon nach wenigen Wochen oder Monaten in ein Pflegeheim. Etwa 80 Prozent davon erhalten laut Zieger keinerlei krankengymnastische oder ergotherapeutische Behandlung.

Ein Beitrag von Ulrike Schmitzer für die Sendung "Dimensionen" auf Ö1 (21. März 2002)
->   Radio Österreich 1
->   Andreas Zieger zu Wachkoma
 
 
 
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01.01.2010