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Die neue "Wehrmachtsausstellung" in Wien  
  Es ist wohl die am meisten diskutierte Ausstellung der Nachkriegszeit: "Verbrechen der Wehrmacht - Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 bis 1944". Über sie haben Historiker gestritten, Politiker polemisiert und der deutsche Bundestag in einer als "Sternstunde des Parlamentarismus" bezeichneten Sitzung debattiert.  
Fast eine Million Menschen haben sie bisher besucht, gegen sie wurde demonstriert und ein Sprengstoffattentat unternommen. Und sogar in TV-Serien wie der "Lindenstraße" und dem "Tatort" ist sie Thema gewesen. Die neu konzeptionierte "Wehrmachtsaustellung" ist nun erstmals in Wien zu sehen.
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Informationen zur Ausstellung
Die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" ist vom 9. April bis zum 26. Mai 2002 im Atelierhaus der Akademie der Bildenden Künste in Wien, dem ehemaligen Semperdepot, gezeigt. Der 750 Seiten starke Katalog zur Ausstellung ist im Verlag Hamburger Edition erschienen.
->   Akademie der Bildenden Künste Wien
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Überarbeitung nach Fälschungsvorwürfen
Die Ausstellung erlebt mittlerweile ihre zweite Auflage. Nach einer heftigen Debatte mit Fälschungsvorwürfen ist sie neu gestaltet worden.

"Die zweite Wehrmachtsausstellung ist so angelegt, dass sie selbst den verbohrtesten Verteidiger der Wehrmacht buchstäblich entwaffnet", schrieb die Hamburger "Zeit" anlässlich der Neueröffnung in Berlin im Dezember 2001.
->   "Die Zeit": Von strenger Sachlichkeit
Grundthese in der Geschichtswissenschaft unumstritten
Die These, die in der Öffentlichkeit so kontrovers aufgenommen worden ist - nämlich die Beteiligung der Wehrmacht am Völkermord der Nazis -, diese These sei in der Wissenschaft unumstritten, und zwar schon seit Jahren, sagt die wissenschaftliche Leiterin der neuen Wehrmachtsausstellung, Ulrike Jureit.
Keine Kollektivschuld
Das würde aber keineswegs den Vorwurf der Kollektivschuld beinhalten, betonen die Ausstellungsmacher immer wieder. Es gehe um die Analyse einer sehr differenzierten und je nach Ort und Zeit unterschiedlichen Beteiligung der Wehrmacht als Organisation an Kriegsverbrechen.

Insgesamt gelte aber: Ohne die Zusammenarbeit mit der Wehrmacht hätte der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung nicht durchgeführt werden können.
Der Krieg im Osten war anders ...
Vor allem im Osten war der Krieg und damit die Rolle der Wehrmacht eine andere als auf den anderen Kriegsschauplätzen, betont Jureit. Die Sowjetunion galt als der Feind schlechthin, der Krieg gegen sie unterschied sich von allen anderen Kriegen der europäischen Moderne.

Von den in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen sowjetischen Soldaten sind 58 Prozent in den Gefangenenlagern umgekommen, von den Soldaten der westlichen Alliierten nur 3,5 Prozent.
Russische Kriegsgefangene
 
Bild: dpa/dpaweb/Institut für Sozialforschung Hamburg

Das im November 2001 vom Hamburger Institut für
Sozialforschung veröffentlichte Foto aus den Jahren 1941/1942 zeigt russische Kriegsgefangene während eines Transportes im Gebiet von Smolensk. Das Foto ist in der neuen Wehrmachtsausstellung zu sehen.
Privat - das Hamburger Institut für Sozialforschung
Organisiert und gestaltet wird die Wehrmachtsausstellung vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Dieses Institut ist im deutschsprachigem Raum durchaus ungewöhnlich - es ist nämlich ein privates wissenschaftliches Institut, als Stiftung organisiert und gegründet von Jan Philipp Reemtsma.

Bis zu seinem 27. Lebensjahr war er Hauptgesellschafter der gleichnamigen Tabakfirma gewesen, hat dann alles verkauft und mit diesem Geld das Institut gegründet, das heute um die 50 Mitarbeiter hat.
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Führungen durch die Ausstellung
Für das Führungs- und Vermittlungsprogramm sowie für die Diskussionsveranstaltung "Die umkämpfte Gegenwart - Zur geschichtspolitischen Rolle der Wehrmachtsausstellung" arbeitet die Akademie der bildenden Künste Wien mit dem Büro trafo.K zusammen, das ein umfangreiches und vielschichtiges Führungsangebot erstellt hat.

Thematische Rundgänge in Form von Gesprächen mit unterschiedlichen ExpertInnen finden jeweils samstags und sonntags um 14.00 Uhr statt, Überblicksführungen werden jeweils donnerstags um 19.00 Uhr und sonntags um 15.00 Uhr angeboten.
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Forschung ohne Denkverbot
Ein Thema war stets Leitthema am Institut: die Entstehung von und der Umgang mit Gewalt im 20. Jahrhundert. Wobei sich die Forschungen des Hamburger Instituts hier sowohl auf die NS-Zeit als auch auf den stalinistischen Terror beziehen.

Der Leiter des Arbeitsbereichs "Gewalt", Ulrich Greiner, spricht sich dabei gegen ein Vergleichsverbot aus: Für den Historiker müsse alles vergleichbar sein, es dürfe keine Denkverbote geben.

Und so forscht man am Hamburger Institut für Sozialforschung auch über die US-Atombombe auf Nagasaki und die Vertreibung der Deutschen nach 1945.
Perspektivenwechsel von den Opfern zu den Tätern
Lange Zeit hatte man sich in der Geschichtswissenschaft dem Thema der NS-Verbrechen nur aus der Opferperspektive her genähert. Erst in den späten 80er Jahren lenkte eine neue Generation von Historikern den Focus auch auf die Täter.

In der "Wehrmachtsausstellung" wurde nicht mehr nur die Beteiligung kleinerer Einheiten wie die der SS oder der Einsatzgruppen am Völkermord thematisiert, sondern die strukturelle Involvierung der Wehrmacht mit ihren 18 Millionen Soldaten insgesamt.
Freispruch erster Klasse
Bild: dpa/dpaweb/dpa/Pool/Wolfgang Kumm
Besucher bei der Eröffnung der neuen Ausstellung in Berlin
Nach dem Auftauchen von Fälschungsvorwürfen hatte Reemtsma 1999 die Notbremse gezogen. Er setzte die Ausstellung aus und eine Kommission aus acht prominenten Historikern ein, welche die Ausstellung überprüfen sollte.

Das Urteil der Kommission nach fast einem Jahr Überprüfung war "ein Freispruch erster Klasse", wie die "Süddeutsche Zeitung" kommentierte. "Die Ausstellung enthält keine Fälschungen im Sinne der leitenden Fragestellungen und Thesen. (...) Die Grundaussagen der Ausstellung über die Wehrmacht und den im 'Osten' geführten Vernichtungskrieg bleiben der Sache nach richtig", heißt es im Bericht der Kommission.

Bemängelt wurden jedoch eine "teilweise zu pauschal und unzulässig verallgemeinernde Argumentation" sowie falsche Bildbeschreibungen bei insgesamt 20 von über 1.400 gezeigten Fotos.
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Weitere Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung
Eine weitere Kooperation wurde mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien eingegangen, das aus Anlass der Ausstellung von 16. bis 18. Mai 2002 unter dem Titel "Krieg. Verbrechen. Retrospektiven" ein internationales wissenschaftliches Symposion in der Aula am Uni-Campus durchführen wird. In diesem Rahmen wird Reemtsma zum "Begriff Handlungsspielräume" ein Referat halten: am 16. Mai um 18.00 Uhr in der Aula im Campus des Alten AKH in Wien.

Im Rahmen der "Wiener Vorlesungen" spricht der Historiker Hans Mommsen über "Der besudelte Ehrenschild der Armee", und zwar am 22. April um 19.00 Uhr im Wiener Rathaus.
->   Weitere Informationen zum Rahmenprogramm
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Keine "saubere Wehrmacht"
Die Legende von der "sauberen Wehrmacht" wurde von der Untersuchungskommission also nicht wieder hergestellt. Die Kommission empfahl eine Überarbeitung der Ausstellung, Reemtsma entschloss sich jedoch zu einer Neukonzeptionierung durch ein neues Ausstellungsteam.

Neu ist jetzt der Bezug auf die damalige völkerrechtliche Situation. Denn es gab völkerrechtliche Standards, die bewusst außer Kraft gesetzt worden waren.

Neu ist in der Ausstellung auch ein Raum mit dem Titel "Handlungsspielräume". Denn Krieg, sagt Reemtsma, ist nicht nur eine Maschine, der Einzelne darin nicht nur ein Rädchen. Er müsse auch immer wieder Entscheidungen treffen.
Weniger polarisierend
Die Reaktionen auf die nunmehrige zweite Wehrmachtsausstellung vermitteln den Eindruck, dass die neue Ausstellung viel weniger polarisiert als die frühere.

Sie sei viel sachlicher, heißt es, weniger moralisierend. Der anklägerische Gestus sei verschwunden, gegenüber der "Wucht der Bilder" würden nunmehr die Texte überwiegen.

Die erste Ausstellung wird mittlerweile schon selber musealisiert: Sie soll in den Bestand des Deutschen Historischen Museums in Berlin übergehen. Die Wehrmachtsausstellung ist also selber schon Geschichte geworden.

Von Peter Lachnit für die Sendung "Dimensionen" am 4. April 2002 um 19.05 in Ö1
->   Radio Österreich 1
->   Die Wehrmachtsausstellung
->   Hamburger Institut für Sozialforschung
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   "Wehrmachtsausstellung" und Diskurs über Gewalt
 
 
 
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01.01.2010