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16 Jahre Tschernobyl: Streit um die Opferzahlen  
  16 Jahre nach dem Supergau in Tschernobyl am 26. April 1986 dauert der Streit um die Opferzahlen noch immer an. Denn die Experten sind sich nicht einig, welche Erkrankungen tatsächlich als Folge der radioaktiven Verstrahlung gelten können. Während Wissenschaftler in Weißrussland steigende Fälle von Leukämie, Gehirntumore und genetische Veränderungen beobachten, erkennen deutsche Forscher nur die erhöhte Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle an.  
In Weißrussland gibt es kein einziges Atomkraftwerk. Und dennoch: 23 Prozent des Territoriums sind mit Radionukleiden verseucht.

"Von zehn Millionen Einwohnern leben zwei Millionen auf kontaminierten Gebieten, darunter 500.000 Kinder", sagt Wassily Nesterenko, engagierter Atomphysiker vom unabhängigen Institut für Strahlensicherheit Belrad in Minsk über die Situation heute.
Stärkere Kontaminierung bei Kindern
"Den Kindern gilt unsere größte Sorge. Wenn man verseuchte, kontaminierte Lebensmittel verbraucht, nimmt man Radionukleide in den Körper auf. Die Anzahl der Radionukleide bei Kindern liegt um drei bis fünf mal höher als bei Erwachsenen", erklärt Nesterenko die Problematik.
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Supergau: 16 Jahre Tschernobyl
Vor 16 Jahren - am 26. April 1986 - ereignete sich im Atomkraftwerk Tschernobyl der schwerste Unfall in der Geschichte der Atomenergie-Nutzung. Der vierte Reaktorblock des Kraftwerks wurde durch eine Explosion zerstört. Eine radioaktive Wolke, die 200 mal so viel Radioaktivität freisetzte wie die Atombombenabwürfe von Hiroshima oder Nagasaki, breitete sich aus. Besonders betroffen waren die Regionen in der Ukraine, im Südwesten Russlands, in Weißrussland sowie in Skandinavien und Westeuropa.
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Kein Kind gesund in kontaminierten Gebieten
Die Kinder sind die Hauptleidtragenden der Katastrophe, sagt Nesterenko. "Während 1985 noch 80 Prozent aller Kinder in der Republik gesund waren, so sind es heute nur mehr rund 20 Prozent. In den kontaminierten Gebieten leben so gut wie keine gesunden Kinder mehr."

Renata ist eines dieser Kinder. Sie lebt im verstrahlten Gebiet, in Babruijsk, in der Region Mogilev. Das zehnjährige Mädchen hat einen Gehirntumor. Bei ihr können nur mehr die Symptome bekämpft werden, Heilung gibt es keine.

Eine Ärztin vom Hospiz des Hilfswerks Austria kommt regelmäßig vorbei, um Renata zu untersuchen. "Wir vermuten einen Zusammenhang mit Tschernobyl", sagt Renatas Vater, der aus einem Ort stammt, der evakuiert werden hätte sollen.
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Verseuchtes Land neu besiedelt
Seit der Reaktorkatastrophe sind 140.000 Menschen aus den gefährlichsten Gebieten abgesiedelt worden. Doch in die evakuierten Gebiete ziehen mittlerweile schon wieder Menschen ein. Flüchtlinge aus Tschetschenien zum Beispiel, die die unsichtbare Gefahr in Kauf nehmen, statt zu Hause im Kugelhagel zu sterben.
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Expertenstreit um "gesicherte Todesfälle"
Die Experten sind sich allerdings nach wie vor uneinig darüber, welche Erkrankungen bzw. Todesfälle tatsächlich auf die radioaktive Verseuchung zurückzuführen sind.

Die gesicherten Todesfälle laut Forschungszentrum Jülich: 31 unmittelbar Beschäftigte und Hilfskräfte sind gestorben. Drei in der Anfangsphase, 28 aufgrund der radiologischen Belastung, die sie in Zusammenhang mit dem Unfall abbekommen haben.

14 weitere Personen sind später gestorben, allerdings nicht an strahlentypischen Krankheiten. "Aber die könnte man auch noch im weitesten Sinn dazuzählen", sagt Ralf Hille vom Forschungszentrum Jülich. "Das ist das gesicherte Zahlenmaterial auf Seite der Beschäftigten."
Schilddrüsenkrebs anerkannt
Auf Seite der Bevölkerung sind die gesicherten Zahlen nur im Bereich von wenigen Kindern - und zwar jene, die an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Die Heilungsrate liegt mittlerweile bei 100 Prozent, diese Kinder können gerettet werden.

Insgesamt gelten 1.790 Fälle von Schilddrüsenkrebs als eindeutige Folge von Tschernobyl, sagt Ralf Hille vom Forschungszentrum Jülich. "Das sind die einzigen eindeutigen Auswirkungen durch die radiologischen Belastungen durch den Tschernobyl-Unfall."

Alexei Okeanov vom Institut für Strahlenmedizin und Endokrinologie in Minsk hält dagegen: "Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Latenzzeit dieser Erkrankung mehr als zehn Jahre beträgt. Wir sind jetzt im 16. Jahr. Wir haben erst mit den Anfängen der bösartigen Erkrankungen zu tun. Auch die anderen Krebsarten können sich entwickeln."
Mobile Messstation untersucht Strahlenbelastung
Wassily Nesterenko macht mit seinem unabhängigen Strahlen-Institut Belrad regelmäßig Messungen in den belasteten Gebieten. Zum einen testet er mit mobilen Labors die Lebensmittel, zum anderen die Strahlenbelastung der Menschen.

Der Atomphysiker hat 145.000 Kinder gemessen. Er fand Erschreckendes: Normalerweise gelten 50 Becquerel pro Kilogramm Körpergewicht als gesundheitsschädliche Grenze. Der Atomphysiker hat aber Kinder gesehen, die 1.000, 2.000, sogar 7.000 Becquerel pro Kilo Körpergewicht aufwiesen.
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Verstrahlung durch Lebensmittel
In Weissrussland wird rund die Hälfte der Lebensmittel privat erzeugt. Die Leute sind darauf angewiesen. Die meiste Verstrahlung - nämlich 80 Prozent - kommt über das Essen in den Körper. Am giftigsten sind die Lebensmittel, die bei uns als gesund gelten: Karotten, Kartoffel, Milch usw.

"60 Prozent der Verstrahlung kommt mit Milch in den Körper der Kinder. Wir haben in den verstrahlten Gebieten ca. 1.100 Dörfer, wo die Verseuchung der Milch 50 Becquerel überschreitet, in 350 Dörfern überschreitet der Wert 100 Becquerel", berichtet Nesterenko.

Radiocäsium gelangt über die Lebensmittel in den Organismus und wird von den Zellen der lebenswichtigen Organe Herz, Leber, Niere, Schilddrüse und dem Nervensystem absorbiert. Cäsium führt zu Zellverformungen und dem Absterben von Zellen.
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Augenleiden und Herzstörungen bei Kindern
Auch die Augen leiden stark unter der Strahlenbelastung. "In den Augmuskeln speichert sich Cäsium an, es kommt es zur Trübung der Linse - es entwickelt sich grauer Star", schildert Nesterenko. "Bei 23 bis 25 Prozent der Kinder, die solche erhöhten Werte haben, hat sich grauer Star gebildet."

"Wir haben festgestellt, dass Kinder, die mehr als 50 Becquerel pro Kilo Körpergewicht aufweisen, auch verschiedene Herzstörungen haben, genaugesagt 80 Prozent der Kinder", so der Experte weiter.

Nesterenko berichtet zudem von genetischen Schäden, die mittlerweile nicht nur in den verstrahlten Gebieten auftreten. "Untersuchungen zeigen, dass die Zahl der angeborenen Krankheiten wie zum Beispiel des Down-Syndroms jetzt um das Zwei- oder Dreifache gestiegen ist - und in einigen Kreisen ist die Zahl sogar um das Siebenfache gestiegen."
Genetische Veränderungen und Augenleiden?
Das Forschungszentrum Jülich stellt dagegen fest, dass weder Fehlgeburten noch Mongolie oder angeborene Missbildungen infolge der Strahlenbelastung gestiegen sind, auch genetische Veränderungen sind bisher nicht feststellbar.

"Wir sind in einer sehr frühen Phase, aufgrund der jetzigen Kenntnislage würden wie genetische Veränderungen aber ausschließen", so der Jülicher Experte Ralf Hille.
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Streitpunkt Leukämie
In Weißrussland gibt es auch Kontroversen um die Leukämiefälle, die nach der Katastrophe aufgetreten sind. Leukämie gilt als Indikator für die Spätfolgen. "Bei Leukämie kann man mit der Statistik arbeiten wie man will", meint Hille. Er glaubt, dass die Krebsfälle mit der Einführung des Krebsregisters gestiegen sind: "Die Daten wurden über die Jahre besser erfasst. Man sieht einen Anstieg, der abfragetechnisch bedingt ist und nichts mit einem wirklichen Anstieg zu tun hat."
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Alle Krebsarten steigen
Olga Aleinikova, die Leiterin der Kinderkrebsklinik in Minsk, die mit Hilfe des Hilfswerks Austria aufgebaut wurde, beobachtet jedoch bei Teenagern einen Anstieg aller Krebsarten. Die meisten Krebsfälle treten etwa in der Region Mogilov, in einem kontaminierten Gebiet auf.

"Bösartiger Knochenkrebs ist auch in den letzten 6 Jahren statistisch signifikant gestiegen, ebenso wie Gehirntumore", erzählt Aleinikova. In der Kinderkrebsklinik sind die Betten mehr als ausgelastet. Statt der geplanten 116 Kinder müssen 150 Kinder betreut werden.

Ulrike Schmitzer war für die Ö1-Sendung "Dimensionen" vom 25.4.2002 zu einem Lokalaugenschein in der weißrussischen Hauptstadt Minsk.
->   Mehr zum Thema Tschernobyl in science.ORF.at
->   Forschungszentrum Jülich
->   Hilfswerk Austria: Spital für Krebskranke Kinder in Weißrussland
 
 
 
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01.01.2010