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Arendt und Anders: Über Täter ohne Gewissen  
  Günther Anders und Hannah Arendt waren im Leben über viele Jahre hinweg ein Paar. In ihrem Werk haben die beiden Philosophen zum Teil unterschiedliche Pfade beschritten. Beim Problem der Verantwortung und dem fehlenden Gewissen von Tätern sind sie sich trotz unterschiedlicher Herangehensweisen aber sehr nahe.  
Die deutsch-französische Doktorandin Karin Maire unternahm im Rahmen des Internationalen Günther Anders Symposions in Wien den schwierigen Versuch, das Oeuvre der beiden bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts zu vergleichen.
Atombomben-Pilot vs. SS-Obersturmbannführer
Als Ausgangspunkt zog Maire die Lektüre zweier Schriften heran. Zum ersten "Off limits für das Gewissen": die 70 Briefe umfassende Korrespondenz von Günther Anders mit Claude Eatherly - jenem amerikanischen Piloten, der das O.K-Zeichen für den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima gegeben hatte, wodurch 200.000 Menschen starben.

Und zum zweiten "Eichmann in Jerusalem" von Hannah Arendt, der Bericht über den Prozess gegen Alfred Eichmann, dem SS-Obersturmbannführer und Befehlsgeber der Massendeportationen von Millionen Juden während des Nationalsozialismus.

Bei allen historischen und persönlichen Unterschieden seien zwei Parallelen zu konstatieren, so Maire. Erstens die Beschäftigung mit konkreten Einzelpersonen, an Hand derer sich allgemeine Aussagen treffen lassen, und zweitens die Feststellung eines eklatanten Schwunds an Verantwortung bei beiden Proponenten.
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Biographie von Günther Anders
Anders wurde 1902 als Günther Stern in Breslau als Sohn des Begründers der Differenzialpsychologie William Stern geboren. Er promovierte 1923 bei Edmund Husserl in Freiburg. 1936 emigrierte Anders nach Amerika, 1950 kehrte er nach Europa zurück und ließ sich in Wien nieder, wo er auch starb. 1945 hatte Anders begonnen, sich mit der atomaren Situation auseinander zu setzen. Er war Mitinitiator der internationalen Anti-Atombewegung. 1956 erschien sein einflussreiches Buch "Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution". Die Ehe zwischen Günther Anders und Hannah Arendt dauerte von 1929 bis 1937.
->   Weiteres zur Biographie von Anders
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Schuldig unschuldig: Leben im atomaren Zeitalter
Für Günther Anders, der sein Projekt als "gelegenheitsphilosophische Kreuzung von Philosophie und Journalismus" bezeichnete, war die Auseinandersetzung mit dem US-Bomberpiloten Eatherly symptomatisch.

Sie lieferte quasi ein "Miniaturmodell des atomaren Zeitalters", vor dessen Konsequenzen er stets warnte. Seit den Bombenabwürfen über Japan gebe es die Möglichkeit für den Einzelnen, auf Knopfdruck das Leben Hunderttausender Menschen auszulöschen, "ohne es zu wollen oder ohne dafür verantwortlich zu sein".

Der Pilot Eatherly ist für Anders die typische Figur des "schuldig Unschuldigen", der als Rad im Getriebe zum Mittäter bei der Massentötung in Hiroshima wurde.
->   Mehr über den Atombomben-Abwurf über Hiroshima
Kein Monster, sondern banal
Hannah Arendt wiederum erschütterte durch ihre Beschäftigung mit Eichmann die These von der "Ungeheuerlichkeit" der nationalsozialistischen Täter. Sie war 1961 von der Zeitschrift "The New Yorker" zur Berichterstattung des Prozesses gegen Eichmann nach Jerusalem geschickt worden.

Berühmt geworden ist ihr Begriff von der Banalität des Bösen: Adolf Eichmann war kein Monster, der eigenhändig Menschen erschossen hätte, sondern ganz gewöhnlich, banal, ein Bürokrat in SS-Uniform.
Freiwillige Aufgabe des Denkens ...
Was in Arendts Analyse des Verhältnisses Eichmanns zu seiner Schuld auffällt, so Maire, ist seine Aufgabe des Denkens.

Diese drückt sich unter anderem aus in seiner Unfähigkeit, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen und stattdessen Lügen zu verwenden, sowie seiner Unfähigkeit zu kommunizieren, indem er sich mit Abwehrmechanismen (Sprachautomatismen) gegenüber den Anderen schützt.
... und somit ohne Gewissen
In den Augen des Täters wird die Deportation von Millionen Menschen zu einer "'gewissenhaft' durchgeführten Arbeit", zu der es kein Gewissensverhältnis gibt, da ein moralisches Gewissen ein Denken voraussetzen würde. Der Nationalsozialismus hat in diesem Sinn einen Kriminellen neuen Typs geschaffen, so Maire.
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Hannah Arendt
Die Philosophin, Soziologin und Politologin wurde am 14.10. 1906 in Hannover geboren. Als Schülerin von Karl Jaspers emigrierte sie 1933 nach Frankreich, 1940 in die USA, wo sie an der New School of Social Research lehrte. Bekannt wurde sie mit "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft", das im Original 1951 erschien. In dem Werk verbindet Arendt die Entstehungsbedingungen von nationalstaatlichem Totalitarismus im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Antisemitismus. Mit ihrem Totalitarismusbegriff untersucht sie überdies die strukturelle Gleichheit von Faschismus und Stalinismus.
->   Mehr über Hannah Arendt
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Vergleichbarkeit?
Die Frage, ob die Ermordung von Millionen Juden überhaupt mit den Atombombenabwürfen über Japan zu vergleichen sei, wollte Maire in ihrer Gegenüberstellung von Arendt und Anders nicht beantworten.

Sie zitierte Günther Anders mit den Worten, wonach die Atombombe die Vollendung dessen sei, was Auschwitz "experimentell" war. Aber: Im Unterschied zu den Auswirkungen des Bombenabwurfs war der Massenmord in den Vernichtungslagern geplant.
Keine Gleichsetzung
Insofern unternimmt auch Anders, so Maire, keine Gleichsetzung der faschistischen Welt und der "atomaren" Welt der Demokratie. Es bliebe aber unklar, ob Anders die Spezifizität des Totalitarismus so ausmachen konnte wie Hannah Arendt, für die jener etwas radikal Neues in der Moderne darstellte.

Günther Anders hingegen glaubte eher - und insofern nicht unähnlich der Frankfurter Schule - an eine Kontinuität zwischen den totalitären Regimes und der "atomaren Demokratie".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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Karin Maire ist deutsch-französische Doktorandin. Im Rahmen des internationalen Symposions "Urlaub vom Nichts - zum 100. Geburtstag und zehnten Todestag des österreichischen Philosophen Günther Anders" sprach sie am Freitag, den 27.6. 2002, über "Der Täter und sein Gewissen".
->   Mehr über das Symposion
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->   Einführung in "Eichmann in Jerusalem"
->   Eichmann in Jerusalem (Shoah Projekt)
->   Günther Anders Forum
->   Wiederentdeckung von Günther Anders gefordert
 
 
 
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01.01.2010