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Wie entsteht die Welt im Kopf?  
  Eines der zentralen Rätsel der Neurowissenschaften ist das so genannte Bindungsproblem: Die Frage, wie es das Gehirn schafft, das Bündel jener Informationen, die über die verschiedenen Sinnesorgane einströmen, wieder zu einem erlebten Ganzen zusammen zu setzen. Der französische Philosoph Rene Descartes postulierte bereits im 17. Jahrhundert eine Lösung für dieses Problem. Nach heutigem Wissen ist sein Ansatz aber falsch. Aktuelle neurobiologische Experimente weisen darauf hin, dass sich das Gehirn eines anderen Lösungsmechanismus bedient, der bereits in den 1950er Jahren unter dem Titel "Synchronisationshypothese" Eingang in die Fachliteratur fand.  
Um die Orientierung in der Umwelt zu gewährleisten, muss das Gehirn (hinreichend) verlässliche Informationen aus der Welt extrahieren und diese in Verhalten umsetzen. In der Regel sind es fünf Eigenschaften von Umweltreizen, die für das Gehirn von grundlegender Bedeutung sind.

Das ist erstens die Modalität eines Reizes (Sehen, Schmecken, Hören etc.), zweitens dessen Qualität (beim Sehen z.B. Farbe, Helligkeit etc.) sowie dessen Intensität. Hinzukommt die Zeitstruktur des Reizes und in vielen Fällen auch dessen Ort, etwa im so genannten Hör- oder Sehraum.
Die Codierung von Information
Hier stellt sich die Frage, wie das Gehirn diese grundlegenden Reizeigenschaften in die Sprache der Neuronen übersetzt, so dass die erhaltenen Informationen bestehen bleiben. Die Codierung der Intensität wird durch Entladungsmuster einzelner Nervenzellen, so genannte Depolarisationen, zustande gebracht.

Hier gilt die Regel: Je intensiver ein Reiz, desto höher die Entladungsfrequenz der betroffenen Nervenzellen. Es ist möglich, solche Muster mittels experimenteller Anordnungen als hörbare Signale an Messgeräten wahrnehmbar zu machen.

Sind Neuronen aufgrund eines einströmenden Reizes erregt, dann reagieren diese mit umso rascheren "Click Click"-Signalen je intensiver der Reiz ist - ganz wie bei einem Geigerzähler.
Das Prinzip des Verarbeitungsortes
Bei der Codierung von Sinnes-Modalität und -Qualität ist das anders. Hier gilt das so genannte "Prinzip des Verarbeitungsortes": Der Ort, an dem eine bestimmte Erregung verarbeitet wird, bestimmt dessen subjektives Empfinden.

Das bedeutet, dass das Gehirn dasjenige als "Sehen" interpretiert, was jene Areale der Hirnrinde erregt, die für die visuelle Informationsverarbeitung zuständig sind. Dementsprechend wird das als "Hören" interpretiert, was die auditorischen Hirnrindenareale erregt usw.
Blitze hören und Donner sehen
Diese Hypothese wurde bereits im 19. Jahrhundert von dem deutschen Physiker und Physiologen Hermann von Helmholtz postuliert. Ihre Konsequenzen sind erstaunlich:

Könnte man zum Beispiel die für das Sehen und Hören verantwortlichen Nervenbahnen derart austauschen, so dass das Auge in das Hör-, das Ohr jedoch in das Sehzentrum projizierte, dann könnten wir in der Tat Blitze hören und Donner sehen.

Konstruktivisten berufen sich daher immer wieder auf dieses Prinzip, wenn sie begründen wollen, dass das Gehirn die Welt streng genommen nicht abbildet, sondern sie eigentlich neu erschafft, wenn Umweltreize in die Sprache der Neuronen übersetzt werden.
Parallele Informationsverarbeitung
Das Prinzip des Verarbeitungsortes zeigt außerdem, dass im Gehirn die so genannte parallele Informationsverarbeitung dominiert. Alle aufgenommenen (bzw. konstruierten) Informationen werden gleichzeitig in spezifischen Hirnarealen für den "Endverbraucher" verarbeitet.

Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen: Will ein Koch Schnittlauch schneiden, so tut er gut daran, alle Schnittlauch-Halme im Bündel (also parallel) zu schneiden - es sei denn er hat sehr viel Zeit. Daraus ersieht man, dass die parallele Verarbeitung - im Gegensatz zur so genannten seriellen - sehr ökonomisch ist.
Wie entsteht die Welt im Kopf?
Die Parallelverarbeitung löst noch ein weiteres Problem: Berücksichtigt man, dass wir zur Welt über verschiedene Sinneskanäle in Kontakt treten, stellt sich die Frage, wie es das Gehirn schafft, all die verschiedenen Informationen wieder zu einem kohärenten Ganzen zusammen zu setzen.

Denn offensichtlich erleben wir etwa die getrennten Wahrnehmungsaspekte eines Apfels (dessen Form, Farbe, Geschmack etc.) als zu ein und dem selben Objekt gehörend. Also ganz anders, als es die Architektur unserer Hirnfunktionen erwarten ließe.

Intuitiv würde man erwarten, dass die Lösung dieses Problems in einer Strategie besteht, die bereits vom französischen Aufklärungsphilosophen Rene Descartes angedacht wurde.
Descartes' Irrtum
Descartes war der Meinung, dass sämtliche Reize im Gehirn in einem Zentrum gebündelt würden - und dass dieses Zentrum folglich der Sitz des Bewusstseins und des freien Willens sei. Er postulierte weiterhin, dass dieses Zentrum in der Zirbeldrüse, einem kleinen Organ im Zwischenhirn, sitze.

Heute weiß man, dass die Zirbeldrüse als Produzent des Hormons Melatonin in den Wach-Schlaf-Rhythmus eingereift - und mit der Produktion von Bewusstsein nichts zu tun hat. Zu Descartes Ehrenrettung sei allerdings hinzugefügt, dass damals noch kaum Wissen über funktionelle Hirnanatomie bestand.
Lag der französische Aufklärer doch nicht falsch?
Immerhin wäre es aber möglich, dass zumindest die Descartessche Grundidee - die Zusammenführung von verteilter Information auf übergeordnete Zentren - durch die Neurowissenschaften bestätigt würde.

Tatsächlich fand man vor vier Jahrzehnten zunächst Hinweise darauf, dass der französiche Denker mit seinen Spekulationen nicht ganz falsch gelegen sein könnte.

In den 1960er-Jahren entdeckten die Neurophysiologen David Hunter Hubel und Torsten Nils Wiesel, dass spezialisierte Nervenzellen im Hirn der Katze existieren, die nur durch visuelle Informationen über Objektkonturen - und sonst nichts - erregbar sind. Zudem fand man in den 1980er-Jahren Nervenzellen, die sogar für optische Muster der Gesichtererkennung verantwortlich waren.
Das Gehirn als Informations-Pyramide?
Der polnische Neurotheoretiker Konorski folgerte aus solchen Befunden, dass das Gehirn in einer Art Hierarchie organisiert sein könnte. An der Basis dieser Hierarchie, so seine theoretische Überlegung, wären Nervenzellen, die mit allgemeine Eigenschaften - wie zum Beispiel Objektkonturen - beschäftigt seien.

Weiter oben stünden dann Zellen, die speziellere Aspekte - wie zum Beispiel individuelle Personen - verarbeiten würden. Und an der Spitze wären dann Zellen zu suchen, an denen die gesamte parallel verteilte Information wieder zusammengeführt würde.

Diese Zellen entsprächen dann in etwa dem von Descartes geforderten Zentrum, das gewissermaßen als Bühne des Bewusstseins fungierte.
Das kombinatorische Problem
Leider wurde diese Hoffnung durch die experimentelle Forschung enttäuscht. Bis heute wurde keine übergeordnete Zentralstelle im Gehirn gefunden - die kartesische Bühne existiert nicht.

Das Konzept der Informationspyramide ist aber auch noch aus einem anderen Grund zum Scheitern verurteilt. Wenn es Neuronen gibt, die einzig damit beschäftigt sind, individuelle Objekte der Welt (z.B. Personen) zu repräsentieren, dann ergibt sich ein so genanntes kombinatorisches Problem:

Die Gegenstände der Welt sind so zahlreich, dass es unmöglich erscheint, dass diese durch eine begrenzte Zahl von Nervenzellen repräsentierbar wären. Berücksichtigt man zusätzlich, dass jedes Objekt unter Vielzahl von Blickwinkeln zu betrachten ist (selbiges gilt für die anderen Sinnesmodalitäten), dann erscheint es ausgeschlossen, dass sich unser Nervensystem einer solchen Strategie bedient.
Donald Hebbs Ausweg
Es gibt aber einen theoretischen Ausweg aus diesem Dilemma. Der kanadische Neurowissenschaftler Donald Olding Hebb schlug bereits im Jahr 1949 folgende Lösung vor:

Das Gehirn könnte die große Zahl an Umwelt-Objekten dann repräsentieren, wenn Nervenzellen nicht einzeln, sondern im Verband gewisse Aspekte der Welt abarbeiteten. Zusätzlich müsste, so forderte Hebb, jede Nervenzelle in verschiedenen Neuronen-Teams mitarbeiten können.

Auf diese Weise ließe sich das kombinatorische Problem lösen. Denn selbst mit einer begrenzten Anzahl von Zellen können so viele verschiedene Kombinationen an Nervenverbänden gebildet werden, dass dem Gehirn damit fast unendlich viele Erregungszustände zur Verfügung stünden.
Das Bindungsproblem
Unangenehmerweise bewirkt die Hebbsche Lösung, dass man damit wieder zur Ausgangsfrage zurückgeworfen wird: Wenn die Welt durch verschiedene überlappende Neuronen-Verbände repräsentiert wird, wie "weiß" das Gehirn, dass gewisse repräsentierte Eigenschaften zu ein und dem selben Objekt gehören?

Mit anderen Worten: Wie werden Form, Farbe, Geruch usw., die in verschiedenen Hirnarealen bearbeitet werden, zusammengeführt? Dieses Rätsel wird das "Bindungsproblem" der Neurowissenschaften genannt.
Die Synchronisationshypothese
Das Gehirn hat nur eine Option, um diese Aufgabe zu lösen. Es muss zusammengehörige Informationen in irgend einer Weise kennzeichnen. Die bekannteste Hypothese zu diesem Thema lautet folgendermaßen: Die Bindung von Neuronen-Verbänden wird dadurch erreicht, dass diese einfach gleichzeitig aktiv sind. Mit anderen Worten, ihre Erregungsmuster sollten synchron ablaufen.
Experimentelle Überprüfungen
Einer Arbeitsgruppe um Wolf Singer vom Max Planck- Hirnforschungszentrum in Frankfurt gelang es in den 1990er-Jahren, solche Synchronisationen in den Gehirnen von Katzen und Affen nachzuweisen.

Bisher konnte allerdings noch nicht eindeutig gezeigt werden, dass diese Erregungsmuster notwendig unserer subjektiv empfundenen Einheit der Wahrnehmung zugrunde liegen.

Die Synchronisationshypothese hat aber zumindest einen großen Vorteil: Sie ist empirisch testbar und könnte damit jederzeit widerlegt werden, um einer geeigneteren Hypothese Platz zu machen.

Robert Czepel, science.ORF.at
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Literaturhinweise
Von Wolf Singer erschien kürzlich eine Sammlung von Essays zur Hinforschung, die u. a. das Bindungsproblem thematisiert.

Wolf Singer (2002), Der Beobachter im Gehirn, Suhrkamp stw 1571

Fragen der Informationscodierung und des Konstruktivismus behandelt zum Beispiel der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth.

Gerhard Roth (1997), Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Suhrkamp stw 1275
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01.01.2010