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Cannabis-Rezeptor löscht Angst aus  
  Körpereigene Botenstoffe des menschlichen Gehirns, so genannte Endocannabinoide, scheinen eine wichtige Rolle in der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen zu spielen. Diese Neurotransmitter haben eine ähnliche Wirkung wie Cannabis und könnten als Vorlage für Medikamente dienen, um Phobien, posttraumatische Stresserkrankungen und chronische Schmerzzustände besser zu behandeln.  
Das menschliche Gehirn besitzt mit dem Cannabinoid-Rezeptor Typ 1 (CB1) einen entsprechenden Rezeptor für die aktive Komponente in Marihuana (Cannabis sativa), das so genannte Δ9-Tetrahydrocannabinol, kurz THC. Der Cannabinoid-Rezeptor wird durch körpereigene fettsäureartige Moleküle, die so genannten Endocannabinoide genannt, aktiviert.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie stellten in Zusammenarbeit mit dem Institut für Säugetiergenetik der GSF in Neuherberg und dem Consiglio Nazionale delle Ricerche (CNR) in Neapel nun so genannte Knockout-Mäuse her, denen der CB1-Rezeptor fehlt.
Endogenes Cannabinoid-System beeinflusst Angstverhalten
Auf diese Weise wurde die Signalübertragung durch die Endocannabinoide im Gehirn (Anandamide) unterbunden.

In Versuchen stellte sich heraus, dass die Mäuse ohne CB1-Rezeptor in unangenehmen Situation leichter und schneller in ein Angststarre verfallen und ihr ängstliches Verhalten wesentlich länger beibehalten.

Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen veröffentlichten die Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe von "Nature".
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Der Artikel in Nature: "The endogenous cannabinoid system controls extinction of aversive memories" (Bd. 418, S.530 - 534).
->   Der Artikel in "Nature" (kostenpflichtig)
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Der Mandelkern: Koordinator der Angst?
CB1-Rezeptoren sind in einer Vielzahl von Hirnregionen in großer Menge vorhanden. Darunter befindet sich eine als Amygdala oder Mandelkern bezeichnete Struktur, die entscheidend in kognitive und emotionale Prozesse einbezogen ist.

Aus einer Reihe von Humanstudien ist bekannt, dass die Amygdala bei der Präsentation Angst auslösender Reize aktiviert wird. Diese Aktivität nimmt jedoch rasch wieder ab: In den Untersuchungen war bei Phobikern der Durchblutungsgrad des Amygdalakomplexes, der eine gesteigerte neuronale Aktivität anzeigt, im Vergleich zu dem normaler Versuchspersonen erhöht.

 
Bild: Max-Planck

THC (Δ9-Tetrahydrocannabinol), die psychoaktive Komponente aus Cannabis sativa, und Anandamid, das in unserem Gehirn als Neurotransmitter vorkommt, binden beide an den gleichen Cannabinoid-Rezeptor. Dieser Rezeptor gehört zu den im Gehirn am stärksten exprimierten Rezeptormolekülen, d.h. sein Gen wird besonders häufig abgelesen und entsprechend viele Moleküle werden produziert. Die Bindung von THC oder Anandamid an den Cannabinoid-Rezeptor bewirkt, dass die Neuronen weniger leicht erregbar werden.
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Unkontrollierte Reaktion: Die Phobie
Es gehört zu unserem evolutionären Erbe, dass wir in potenziell bedrohlichen Situationen alarmiert sind: beim Aufenthalt in engen Räumen, auf großen Plätzen oder in luftiger Höhe sowie bei der Begegnung mit Tieren, die als potenziell gefährlich empfunden werden, wie Spinnen oder Schlangen. So wichtig die korrekte Wahrnehmung potenzieller Bedrohungen ist, so bedeutsam ist auch eine angemessene Reaktion darauf. Bei den meisten Menschen befinden sich anfängliche Alarmiertheit und die sich anschließenden Reaktionen in einem ausgewogenen Verhältnis, d.h. beim Ausbleiben der befürchteten Katastrophe beruhigen sie sich recht schnell wieder und können entsprechend überlegt reagieren.

Es gibt jedoch eine Reihe von Menschen, die unter so genannten Phobien leiden (Phobiker), d.h. in bestimmten Situationen eben nicht zu einer derartigen Anpassung in der Lage sind. Bei ihnen kommt es zu einem unkontrollierten Überschießen der ursprünglichen Alarmreaktionen, was schließlich in eine Panikattacke münden kann.
->   Angst und Panikstörungen
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Der Versuch an Mäusen
In Verhaltensexperimenten lernten die Mäuse ohne CB1-Rezeptor zunächst in einem einzigen Trainingsdurchgang, einen neutralen Stimulus (Tonsignal) mit einem unangenehmen Reiz zu assoziieren.

Bei erneuter Präsentation des Tons am darauffolgenden Tag zeigten die Mäuse eine deutliche Angstreaktion, die vor allem durch eine Körperstarre (Freezing) gekennzeichnet war.

Bei Andauern des Tones und gleichzeitigem Ausbleiben des unangenehmen Reizes erholten sich normale Mäuse recht bald von ihrer Angststarre. Mäuse ohne CB1-Rezeptor verblieben hingegen viel länger im Zustand der Starre.
Ohne CB1-Rezeptor kein Beherrschen der Angst
Ähnlich verhielt es sich bei wiederholter Tonpräsentation an aufeinanderfolgenden Tagen: die Kontrollmäuse zeigten eine stetige Abnahme ihrer Angstreaktion, die Knockout-Mäuse dagegen nicht.

Dabei waren sowohl das Erlernen des Angstverhaltens, also die Assoziation von Ton und unangenehmem Reiz, als auch das Speichern des Erlernten im Langzeitgedächtnis bei den Mausmutanten völlig normal.

 
Bild: Max-Planck

Mäuse ohne CB1-Rezeptor können Abneigung auslösende Erlebnisse nicht "vergessen". Den Versuchstieren wurde nach erfolgreicher Assoziation eines Tonsignals mit einem unangenehmen Reiz der Ton an den darauffolgenden Tagen erneut präsentiert, diesmal jedoch ohne Bestrafung. Während sich die Kontrolltiere in zunehmendem Maße an die neue, ungefährliche Situation anpassen und eine stetige Abnahme der Angstreaktion (Starre) auf den Ton zeigen, sind CB1-defiziente Tiere dazu nur sehr eingeschränkt in der Lage.
Vor allem Anpassungsfähigkeit betroffen
Offensichtlich verschlechtert sich durch das Fehlen des CB1-Rezeptors vor allem die Anpassungsfähigkeit der Tiere an potenziell bedrohliche Reize.

Durch ein pharmakologisches Experiment konnten die Wissenschaftler diese Schlussfolgerung tatsächlich bestätigen: Die Blockade des CB1-Rezeptors durch einen selektiven Antagonisten beeinflusste das Angstverhalten normaler Mäuse nur dann, wenn die Substanz vor Abruf des Gedächtnisses, nicht jedoch wenn sie vor der Konditionierung verabreicht wurde.
Konzentration nimmt zu, Kommunikation verändert sich
Mit Hilfe biochemischer Methoden konnten die Forscher außerdem zeigen, dass die Endocannabinoide als körpereigene Bindungspartner des CB1-Rezeptors zum Zeitpunkt der erneuten Tonpräsentation im Amygdalakomplex stark angereichert werden.

Anhand elektrophysiologischer Messungen konnten die Wissenschaftler in der Amygdala zu diesem Zeitpunkt auch eine neue Art von plastischer Veränderung in der Kommunikation zwischen den Nervenzellen nachweisen.

Diese Veränderung wird maßgeblich durch den CB1-Rezeptor kontrolliert und ist möglicherweise für die Abnahme der Angstreaktion bei wiederholter Tonpräsentation verantwortlich.
Neue Therapieansätze möglich
Über die Mechanismen, die einer angemessenen emotionalen Anpassung an potenziell bedrohliche Situationen zu Grunde liegen, war bzw. ist bisher wenig bekannt. Die Ergebnisse der Max-Planck-Wissenschaftler weisen allerdings recht deutlich darauf hin, dass das endogene Cannabinoid-System des Gehirns bei derartigen Prozessen eine zentrale Rolle spielen.

Es scheint für die Angstkonditionierung und die Anpassung an Abneigung auslösende Situationen wichtig zu sein. Aus diesen Erkenntnissen können neuartige Therapieansätze für Phobiker und Patienten mit traumatischen Erlebnissen oder mit gewissen chronischen Schmerzzuständen entstehen.
->   Max-Planck-Institut für Psychiatrie
->   Angst, Phobie, Panik
 
 
 
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01.01.2010