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Österreich und die EU-Erweiterung: Zukunftsinvestition oder geografische "Überdehnung"?  
  Mit der Erweiterung der Europäischen Union sind Hoffnungen auf mehr Sicherheit, Wohlstand und eine machtpolitische Aufwertung verbunden. Die von Kritikern angesprochenen Risiken der Finanzierung, die größere Heterogenität der EU und der damit verbundene Anpassungsbedarf werden dagegen meist als "kleineres Übel" angesehen. Österreich ist auf Grund seiner geopolitischen Lage von den Chancen und Risiken der Erweiterung maximal betroffen, meint der Politikwissenschaftler Martin Lugmayr in einer kürzlich erschienenen Studie, deren Ergebnisse er für science.ORF.at in einem Gastbeitrag zusammenfasst.  
Die Erweiterung als "Politik des kleineren Übels"
Von Martin Lugmayr

Nach langem Zögern gab die EU am Rat von Kopenhagen (1993) den zehn beitrittswilligen Staaten Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas überraschend ihr Versprechen, sie unter bestimmten Bedingungen kurz-, mittel- oder langfristig aufzunehmen.

Das Umdenken korrelierte mit der Verschärfung der weichen und harten Sicherheitslage im ehemaligen Ostblock. Das jugoslawische Drama, der ökonomische Transformationskollaps in Teilen Ost- und Südosteuropas und deren negative Rückkopplungen auf die EU sind zum Damoklesschwert für zukünftige Entwicklungen geworden.
Beitritt als Chance für Reformen
Der EU wird vor Augen geführt, dass diese Krisen und Kriege durch ihre Streuwirkungen in Form von Migration, organisierter Kriminalität und Umweltverschmutzung auch die eigene Sicherheitsbalance in Frage stellen und zudem durch Unterbrechung wichtiger Rohstoff- und Handelswege, Kriseneinsätze und Wiederaufbauhilfe hohe Kosten verursachen.

Innerhalb der EU hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass die Instrumentalisierung der Beitrittswünsche als Reform- und Druckhebel die effizienteste Methode ist, eigene Sicherheits- und Stabilitätsinteressen in der unmittelbaren Nachbarschaft durchzusetzen.

Die Union verfolgt damit eine "Politik des kleineren Übels", denn die mit der Erweiterung verbundenen Kosten und Reformanstrengungen stehen in keinem Vergleich zu den Folgen und Kosten einer im Chaos versinkenden unmittelbaren Nachbarschaft.
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Buchtipp
Das Buch von Martin Lugmayr: "Österreich und die EU-Erweiterung, maximale Chancen - maximale Risiken" ist im Peter Lang Verlag erschienen. Gefördert wurde die Publikation vom Österreichischen Bundeskanzleramt, der Österreichischen Wirtschaftskammer und der Niederösterreichischen Landesregierung.
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Zielkonflikt zwischen Tempo und Qualität
Die EU hat damit jedoch ein Versprechen gegeben, das aufgrund der schwierigen Realisierbarkeit nur schwer einlösbar ist und sich im Spannungsfeld zwischen Tempo und Qualität bewegt.

Denn auf Grund des zahlenmäßigen Umfangs, der ökonomischen Rückständigkeit und der kulturellen Heterogenität der Kandidatenländer sowie auch auf Grund der institutionellen und ökonomischen Strukturprobleme der EU selbst ist der Beitrittsprozess nicht nur mit Chancen, sondern auch erheblichen Risiken verbunden.

Insbesondere Österreich ist aufgrund seiner Nachbarschaft zu vier Kandidatenländern im EU-Vergleich von den Chancen, als auch den Risiken maximal betroffen. Zur Minimierung der Risiken müssen die Kandidiatenländer und die EU im Vorfeld realpolitisch schwer umsetzbare Reformen durchführen.
Sicherheits-, Wohlstands- und Profilierungschancen
Neben den positiven sicherheits- und stabilitätspolitischen Effekten erwartet sich die EU von der Erweiterung auch ökonomische und profilierungspolitische Chancen. Das Erweiterungskonzept hat sich mittlerweile zum zentralen Pfeiler einer kurz- und langfristig angelegten europäischen Krisenprävention entwickelt.

Besonders für die EU-Randstaaten wie Österreich und Deutschland ist es ein Instrument, um kriegerischen Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Krisen in der östlichen Nachbarschaft präventiv entgegenzusteuern.
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Stabilisierende Wirkung und westliche Standards
Die Erweiterung wirkt bereits in der Vor-Beitrittsphase unmittelbar stabilisierend, denn erhoffte Zugeständnisse werden von der EU an politische und ökonomische Reformfortschritte gebunden. Die so genannten Kopenhagener Kriterien, welche für einen Beitritt unabdingbare Voraussetzung sind, zwingen die Kandidatenländer im Vorfeld zur Übernahme westlicher Rechts-, Sozial-, Demokratie- und Umweltstandards. Dazu zählen auch die Lösung von Minderheiten- und Grenzkonflikten, die Abschaltung maroder AKWs, die Übernahme einer umweltverträglichen Industrie- und Wirtschaftsform und die Etablierung einer vertrauensbildenden überregionalen Zusammenarbeit.
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Wettbewerbsfähigkeit und Absatzchancen
Aus ökonomischer Perspektive betrachtet erwartet sich die EU eine Erhöhung der globalen Wettbewerbsfähigkeit und neue Absatzchancen. Die Steigerung der internationalen Konkurrenzfähigkeit wird aus der Kombination von Handelseffekten, Binnenmarkteffekten und Faktorenwanderungen erzielt.

Die Sicherheitsdividende der Osterweiterung schafft die Grundlage für eine expandierende Wachstumsregion, von der vor allem humankapitalintensive und hightechintensive Dienstleistungsbranchen profitieren werden (Aufträge, qualifizierte Arbeitskräfte).

Nach ökonomischen Prognosen gehört Österreich nach Abzug der Kosten und Entschärfung der Risiken im EU-Vergleich zum größten Gewinner des Erweiterungsprozesses.
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Machtpolitische Aufwertung
Darüber hinaus eröffnet die Aufnahme neuer Mitglieder der EU als Akteur der Weltpolitik aber auch einzelnen Mitgliedsländern Profilierungschancen und eine machtpolitische Aufwertung. Die Vergrößerung der wirtschaftlichen Potenz korreliert mit der Zunahme an Einfluss- und Verhandlungsmacht in internationalen Organisationen. Österreich hat die Chance, durch Aktivierung seiner "mitteleuropäischen" Interessens- und Stimmpotentiale sein Gewicht im internen europäischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zu erhöhen.
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Sicherheits-, Wirtschafts- und Steuerungsrisiken
Andererseits ist die Osterweiterung für die gesamte EU und besonders für Österreich mit erheblichen Sicherheits-, Wirtschafts-und Steuerungsrisiken verbunden, die es im Vorfeld zu entschärfen gilt:

Die EU läuft Gefahr, verschärft weiche Sicherheitsrisiken zu importieren, anstatt Stabilität zu exportieren. Wenn die Durchsetzung von funktionierenden Rechts-, Grenz- und Justizapparaten in den Kandidatenländern im Vorfeld nicht gelingt, werden sich die Sicherheitsprobleme im Rahmen eines freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs vervielfachen.

Das gilt besonders für einen massiven Import von organisierter Kriminalität und illegaler Migration aus der unmittelbaren Nachbarschaft (GUS) einer erweiterten Union.
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Finanzierungs- und Absatzprobleme
Den ökonomischen Chancen stehen Finanzierungs- und Anpassungsrisiken gegenüber. Aus den erheblichen Erweiterungskosten und dem Globalisierungszwang zu einer strengen nationalen Spar- und Budgetpolitik entsteht ein Finanzierungsproblem. Zudem wird eine Liberalisierung des Dienstleistungs- und Agrarwarenverkehrs die bereits bestehende Struktur- und Arbeitsmarktkrise von grenznahen arbeits- und agrarintensiven Branchen verschärfen. Insbesondere grenznahe österreichische Arbeitgeber und -nehmer im Bau- und baunahen Gewerbe werden ohne defensive (Übergangsfristen) und offensive Maßnahmen (Strukturreformen) unter weiteren Anpassungs- und Konkurrenzdruck kommen (Migration, Pendler, billigere Löhne).
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Reformbedarf für eine heterogenere EU
Zwischen der Zukunftsvision einer erweiterten Union und dem bereits jetzt unzureichenden institutionellen Status Quo der Entscheidungsabläufe besteht ein enormes Spannungsfeld. Mit der Metamorphose der EU-15 zu einer EU-21 oder EU-27 steigt auch die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Heterogenität der Gemeinschaft.

Die Union droht handlungsunfähig (Veto-Politik, Einstimmigkeitsprinzip) zu werden und damit eine Blockade weiterer Vertiefungsschritte. Nur entsprechende institutionelle Reformen können die Handlungsfähigkeit einer EU-XXL auch in Zukunft sicherstellen.
Zwischenstand: Nettonutzen oder Nettoverlust?
Seit dem Grundsatzbeschluss sind beide Seiten darauf konzentriert, die notwendigen Reformschritte zur Entschärfung der Erweiterungsrisiken durchzuführen. Trotz zehnjähriger Vorbereitung zeigt der derzeitige Stand der Dinge jedoch ein ambivalentes Bild.

Einerseits hat das Ausspielen der Beitrittskarte messbare Sicherheits- und Modernisierungseffekte produziert, und ökonomische Analysen prognostizieren beiderseitige Wohlstandseffekte.

Andererseits ist die Entschärfung der Erweiterungsrisiken aufgrund der nur eingeschränkt vorhandenen beiderseitigen Reformfähigkeit, vorerst nicht in allen Bereichen gelungen. Der Nettonutzen der ersten Erweiterungsrunde im Jahr 2004 wird demnach davon abhängen, inwieweit beide Seiten weitere Anpassungsschritte durchführen und welche Kandidatenländer integriert werden.
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Martin Lugmayr hat im Mai 2001 an der Innsbrucker Leopold-Franzens-Universität sein politikwissenschaftliches Studium abgeschlossen.
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01.01.2010