News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Kann wissenschaftliche Qualität gemessen werden?  
  In der aktuellen Ausgabe der Online-Zeitschrift "The Scientist" vermutet ein amerikanischer Neurowissenschaftler, dass die Herausgeber mancher wissenschaftlicher Journale die Zitierung einschlägiger Literatur systematisch beeinflussen, um den so genannten "Impact-Faktor" der jeweiligen Journale zu heben. Grund genug zu fragen: Was ist der "Impact-Faktor"? Was wird damit gemessen? Und: Welche Gefahren lauern hinter dieser Maßeinheit?  
Unter dem Titel "Impact Factors and Publishing Research" ist in der aktuellen Ausgabe des Online-Wissenschaftsmagazins "The Scientist" ein Brief von Jeffrey Boone Miller erschienen, einem Neurologen an der renommierten Harvard Medical School.

In diesem kurzen Artikel berichtet Miller von der Korrespondenz, die er mit dem Herausgeber eines wissenschaftlichen Journals geführt habe. Dieser habe, so Miller, ihn aufgefordert, gewisse Arbeiten in die Zitierungs-Liste eines von ihm eingereichten Manuskripts aufzunehmen. Und das, obwohl diese Artikel in keinerlei näherem Zusammenhang zu seiner eingereichten Arbeit stünden.
Systematische Manipulation?
Millers vermutete Erklärung für dieses eigenartige Ansinnen: Die vom Herausgeber vorgeschlagenen Artikel stammen alle aus einem Journal, dessen "Impact-Faktor" auf diese Weise gehoben werden solle.

Miller vermutet in seinem Brief weiterhin, dass solche Vorgehensweisen durchaus systematisch angewandt werden könnten - und somit die intellektuelle Redlichkeit von Autoren in Gefahr sei.
...
"Impact Factors and Publishing Research"
Der Artikel "Impact Factors and Publishing Research" von Jeffrey Boone Miller ist in der Ausgabe vom 16. September des Online-Magazins "The Scientist" (Band 16, Ausgabe 18) erschienen.
->   Zum Artikel
...
Messbarkeit als Motto der (Natur-)Wissenschaft
"Messen, was messbar ist - messbar machen, was nicht messbar ist!", lautete das Motto von Galileo Galilei. Zumindest für die Naturwissenschaften erwies sich dieses Credo durchaus als Erfolgsrezept.

Eine relativ junge Disziplin, sie hört auf die etwas sperrigen Namen "Bibliometrie" bzw. "Szientometrie", wendet dieses Rezept nun auf die Wissenschaft selbst an: Szientometriker messen, was von der "scientific community" wo publiziert und wie oft zitiert wird.
Forschungsrichtung "Szientometrie"
Bereits ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts gab es erste großangelegte Anstrengungen, um die rasch zunehmende Zahl an wissenschaftlichen Veröffentlichungen einer statistischen Analyse zu unterziehen. Doch erst mit der Verfügbarkeit elektronischer Datenbanken und der Allgegenwart des World Wide Web erlebte die Szientometrie einen echten Boom.
Wie bemisst sich wissenschaftliche Qualität?
Den Ausgangspunkt szientometrischer Forschungen bilden einfache Fragen, die sich wohl schon jeder einmal gestellt hat. Warum ist z.B. eine Publikation im Wissenschaftsmagazin "Nature" mehr wert als etwa in der "Alpenländischen Bienenzeitung"?

Manche Szientometriker haben darauf folgende Antwort parat: Erstens unterliegen Publikationen in "Nature" einem strengen "Peer review"-Verfahren.
Dieses ist ein Versuch, die wissenschaftliche Güte von veröffentlichten Beiträgen durch ein anonymes Begutachter-System sicherzustellen.
Die Qualitäts-Bewertung von Journalen
Zum zweiten werden nicht nur einzelne Veröffentlichungen, sondern auch ganze Journale einer Qualitätsbewertung unterzogen. Diese wird vom "Institute for Scientific Information" (ISI) in Philadelphia vorgenommen.

Kernstück dieser Bewertung ist der so genannte "Impact Factor" (IF), dessen Punktzahl als ein Maß für die durchschnittliche Resonanz angesehen werden kann, die Artikel eines bestimmten Journals in der Wissenschaftsgemeinde auslösen.
->   "Institute for Scientific Information" (ISI)
...
Der Impact-Faktor
Exakt ausgedrückt berechnet sich der Impakt-Faktor aus der durchschnittlichen Anzahl von wissenschaftlichen Zitierungen, die sich auf Artikel eines bestimmten Journals beziehen, dividiert durch die Zahl aller zitierbaren Dokumente. Die berücksichtigten Zitationen beziehen sich allerdings nur auf die ersten beiden Jahre nach der Erstveröffentlichung des Artikels.

Das heißt, je öfter Forscher einen bestimmten Artikel in ihren eigenen Manuskripten erwähnen, umso höher wird der Impact-Faktor für das Journal, das den zitierten Artikel abgedruckt hat. Mit anderen Worten: Wahr und wichtig ist demnach das, was wahrgenommen wird - ein Prinzip, das jedem Lehrtext des Konstruktivismus zur Ehre gereichen würde.
->   Mehr zur Berechnung des IF
...
Der Impact-Faktor als Wirtschaftsfaktor
Der Impact Faktor ist nicht nur eine quantitative Bewertungsgröße, sondern mittlerweile auch ein veritabler Wirtschafts- und Einflussfaktor:

Bibliotheken orientieren ihre Bestückung am IF, Regierungen stellen anhand des IF die Performanz ihrer Forschungsinstitutionen fest, Wissenschaftler publizieren in Journalen mit möglichst hohen IF-Werten und Komitees beurteilen im Gegenzug die Güte von Publikationen nach IF-Kriterien.
...
Die Top Ten der Naturwissenschaften
Platz Zeitschrift Impact Faktor 2001
1 Annual Review of Immunology 46.233
2 CA: a Cancer Journal for Clinicians 35.933
3 Annual Review of Biochemistry 31.639
4 Physiological Reviews 30.061
5 Nature Genetics 29.600
6 Cell 29.219
7 New England Journal of Medicine 29.065
8 Nature 27.995
9 Nature Medicine 27.906
10 Annual Review of Neuroscience 27.152
...
Wer bestimmt Wissenschaftlichkeit?
Die Krux an der Berechnung des Impact-Faktors liegt an der unscheinbaren Formel "zitierbare Dokumente". Das ISI legt nämlich selbst fest, welche Zeitschriften (und auch Artikel-Typen) in ihre Datenbanken aufgenommen werden können - und bestimmt auf diese Weise die Demarkationslinie zwischen Eliten und Randerscheinungen der Wissenschaft.
...
Die Datenbanken
Den Berechnungen für Naturwissenschaften liegt die vom ISI bereitgestellte Datenbank "Science Citation Index" zugrunde. Das sozialwissenschftliche Gegenstück heißt "Social Science Citation Index", jenes der Kulturwissenschaften ist der "Arts and Humanities Citation Index".
...
Kritik: Zementierung der Gegensätze
Ein oft geäußerter Kritikpunkt an diesem Bewertungssystem lautet, dass es zu einer Zementierung von Hierarchien führe und damit die Undurchlässigkeit des Wissenschaftsbetriebs für innovative Ideen abseits des Mainstream fördere.

Der Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich von der Universität Linz merkt zu diesem Thema an: "Fragwürdig ist auch die vom ISI vorgenommene prinzipielle Gleichsetzung von Resonanz mit Qualität." Denn das Prädikat "wertvoll" (d.h. hohe IF-Werte) wird nämlich tendenziell jenen Wissenschaftsbereichen zuerkannt, in denen viele Forscher tätig sind.
Der "Matthäus-Effekt"
Unter "ferner liefen" rangieren hingegen eher jene Disziplinen, die Minderheiten im allgemeinen Forschungskanon repräsentieren. Ebenso verhält es sich beim Vergleich von Industrie- und Entwicklungsländern.

Bibelfeste Wissenschaftsforscher haben diesem Phänomen den Namen "Matthäus-Effekt" verliehen ("Denn jene, die haben, denen wird gegeben werden; jenen, die nichts haben, wird sogar das noch genommen werden" [Mt 13,12]).
Maßzahlen als Ordnungshilfe
Andererseits ist nicht zu leugnen, dass es angesichts der gegenwärtigen Flut von Veröffentlichungen einfache Maßzahlen braucht, um Ordnung in das Publikations-Chaos zu bringen. Hier ist der Impact-Faktor eine brauchbare, wenn auch äußerst grobe Orientierungshilfe. Er zeigt, was in der Wissenschaft gerade in Mode ist.

Robert Czepel, science.ORF.at
Weiterführende Informationen zu diesem Thema
->   Gerhard Fröhlich: "Das Messen des leicht Messbaren."
->   Gerhard Fröhlich: "Einschlagende Neuigkeiten."
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   IMP: Mehr Publikationen als alle Universitäten
->   Objektivität oder persönliche Interessen?
->   Die Zukunft der wissenschaftlichen Zeitschrift
->   Mehr Transparenz für wissenschaftliches Publizieren
->   Evidenz-basierter Medizinjournalismus gegen Innovationsberichterstattung
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010