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Warum hat Österreich keine Nobelpreisträger mehr?  
  In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte Österreich noch eine beachtliche Anzahl von Nobelpreisträgern hervor, in der zweiten Hälfte jedoch viel weniger. Nach 1975 gab es überhaupt keinen mehr. Generell hat sich eine starke Verschiebung der Nobelpreise von Europa zu den USA hin vollzogen. Eine neue Untersuchung mit einem Vergleich der Arbeitsbedingungen früherer Nobelpreisträger mit Wissenschaftlern von heute, die der Grazer Soziologe und Studienautor Max Haller für science.ORF zusammenfasst, nennt einige Ursachen, die auch für die Forschungsförderung zu denken geben.  
Kontexte und Karrieren der österreichischen Wissenschaft
Von Max Haller

Die Nobelpreisträger zu untersuchen ist wissenschaftssoziologisch von besonderem Interesse, weil ihre Anzahl ein sehr guter Indikator für die Qualität der wissenschaftlichen Spitzenforschung eines Landes ist und man aus ihren Erfahrungen im Bereich der Wissenschaft sehr viel lernen kann (sie waren und sind etwa durchwegs in mehreren Institutionen und Ländern tätig).
Historischer und internationaler Vergleich
In der empirischen Untersuchung wurden drei Gruppen von Wissenschaftern miteinander verglichen: erstens die 11 bisherigen österreichischen Nobelpreisträger im Bereich der Wissenschaft; zweitens 11 heutige österreichische Wissenschaftler in denselben Fachbereichen wie die Nobelpreisträger; drittens 11 ausländische Nobelpreisträger (in der Schweiz, Deutschland, England und den USA).

Für die österreichischen Nobelpreisträger wurde eine detaillierte Analyse ihrer Lebensläufe anhand von Biografien vorgenommen; die heutigen Wissenschaftler wurden persönlich ausführlich interviewt.
Der Vorsprung kleiner Länder
In einer statistischen Analyse der Zahl der Nobelpreisträger nach Ländern wird zunächst gezeigt, dass die kleinen Länder in Europa -Schweiz, Schweden, Niederlande, früher auch Österreich -bezogen auf die Bevölkerungszahl am meisten Preisträger hervorgebracht haben. Ganz allgemein zeigt sich eine starke Verschiebung der Preise von Europa (insbesondere Deutschland und Frankreich) auf die USA.
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Hypothesen der Studie
Es wurden ganz spezifische Hypothesen für den Rückgang der Nobelpreisträger in Österreich aufgestellt, bezogen auf drei Bereiche: Veränderungen in der sozialen Herkunft und dem gesellschaftlichen Umfeld; Veränderungen im Bereich des Bildungs- und Hochschulsystems: Veränderungen in den Beziehungen zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik.
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Die Rolle des "Bildungsmilieus"
Veränderungen in sozialer Herkunft und gesellschaftlichem Umfeld: Hier zeigt sich zum einen, dass die österreichischen Nobelpreisträger zu einem großen Teil aus Familien des gehobenen Bildungsbürgertums stammten, in denen sie eine Vielzahl an geistigen Anregungen erhielten.

Die heutigen Wissenschaftler in Österreich stammen zwar auch großteils aus mittleren und höheren Schichten, jedoch war bei ihnen bei weitem kein so breiter geistig-kultureller Hintergrund vorhanden.

Interessanterweise stammen die heutigen ausländischen Nobelpreisträger häufiger aus Unter- und Mittelschichtfamilien als die beiden anderen Gruppen. Herkunft aus einem gehobenen bildungsbürgerlichen Milieu ist aber offenkundig kein notwendiger Faktor für die Erbringung wissenschaftlicher Spitzenleistungen.
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Die vertriebene Intelligenz
Ein äußerst signifikanter Faktor - aber keineswegs der alleinige - für den Rückgang an österreichischen Nobelpreisträgern war in Österreich wie in Deutschland die Vertreibung jüdischer und regimekritischer Wissenschaftler durch die Nationalsozialisten; dadurch erfolgte in vielen wissenschaftlichen Disziplinen ein völliger Abbruch bestens etablierter wissenschaftlicher Traditionen, der sich auf Generationen hinaus negativ auswirkte.
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Spitzenforschung und Hochschullehre
Veränderungen im Bildungs- und Hochschulsystem seit der Nachkriegszeit haben die Chancen für Wissenschaftler in Österreich (aber auch in Deutschland), Spitzenforschung zu leisten, ebenfalls stark beeinträchtigt.

Hier hatten die enorme Bildungsexpansion, die nicht von entsprechenden Ausweitungen des Lehrpersonal begleitet war, sowie die Universitätsreformen, die zu einer Zunahme an Belastungen durch Selbstverwaltung, Gremien usw. führten, den Effekt, dass die Zeit der Universitätslehrer für Forschung immer knapper wird.

Grundsätzlich zeigt sich jedoch, dass Lehre an der Universität durchaus auch Anregungen für die Forschung mit sich bringen kann, wenn sie nicht zu umfangreich ist.
Wissenschaftliche Leistung und "Verbeamtung"
Hinsichtlich der Veränderungen im Zusammenhang von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wurde zunächst untersucht, ob sich die Verbeamtung negativ auf wissenschaftliche Leistung auswirkt.

Im Gegensatz zu vielfach geäußerten Behauptungen in der Öffentlichkeit kann man dies nicht generell sagen; fast alle österreichischen Nobelpreisträger waren beamtete Universitätslehrer. Negativ wirkt sich Verbeamtung jedoch aus, wenn sie quasi-automatisch, ohne offene Wettbewerbe zwischen allen qualifizierten Bewerbern durchgeführt wird.
Kommerzialisierung und Öffentlichkeitsarbeit
Eine weitere These bezog sich auf Tendenzen in gegenwärtigen Gesellschaften, Wissenschaft zunehmend zu kommerzialisieren, wodurch die Wissenschaftler durch Nebenjobs, Öffentlichkeitsarbeit usw. häufig von ihrer eigentlichen Tätigkeit abgelenkt werden. Dies ist tatsächlich zum Teil der Fall; es liegt aber auch in der Hand der Wissenschaftler selbst, sich solchen Tendenzen anzuschließen oder nicht.
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Die Studie
Die Studie "Kontexte und Karrieren. Österreichs Nobelpreisträger und Wissenschaftler im historischen und internationalen Vergleich",
von Univ. Prof. Max Haller (Institut für Soziologie, Universität Graz), Mag. Birgit Wohinz und Mag. Margot Wohinz (Wien), ist im Passagen Verlag (2002) erschienen.
->   Passagen Verlag
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01.01.2010