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Benes-Dekrete: Gutachten bestimmen den Streit  
  Mit der Veröffentlichung der Studie des deutschen Völkerrechtsexperten Jochen Frowein ist die Auseinandersetzung über die Benes-Dekrete auf europäischer Ebene neu entbrannt. Weitere Studien sollen folgen. Dass damit der Handlungsimpuls wiederum von Expertengutachten und weniger von der Politik selbst ausgeht, sei symptomatisch, meint der Historiker Oliver Rathkolb in einem Gastkommentar für science.ORF.at.  
Benes-Dekrete: Auseinanandersetzung mit "Langzeit-Folgen"
Von Oliver Rathkolb

Wieder einmal hat ein "Frowein-Gutachten" für große Aufregung in Europa gesorgt, nachdem der deutsche Völkerrechtler bereits Ende 2000 mit seiner Expertise sehr wesentlich zur Aufhebung der so genannten EU-Sanktionen gegen Österreich beigetragen hat.

Auch diesmal wird eine an sich politische Entscheidung vorab in den Experten-Bereich - fast ausschließlich Männer - verwiesen, obwohl eigentlich auch vor diesem Gutachten eine entsprechende politische Entscheidung der Europäischen Union bereits möglich gewesen wäre.
"Keine formelle Aufhebung notwendig"
Jochen Frowein kommt, gemeinsam mit dem schwedischen Juristen Ulf Bernitz und Christopher Prout aus Großbritannien zur Ansicht, dass selbst für das Benes-Dekret Nr. 115 aus 1946, mit dem Straffreiheit für "gerechte Vergeltung" an den vertriebenen Deutschen dekretiert wurde, keine formelle Aufhebung dieser Gesetzesmaterien vor einem EU-Beitritt Tschechiens notwendig ist.
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Die Argumentation
Frowein argumentiert, dass im Falle einer Aufhebung diese rückwirkend eine Maßnahme delegitimieren würde, die 1945 durchaus im zeitlichen und politischen Kontext verständlich war. Überdies habe sogar die Bundesrepublik Deutschland, die aufgrund der Integration der meisten Flüchtlinge am stärksten von der Vertreibung betroffen war, in der Deutsch-Tschechischen Erklärung 1997 nicht auf diese Aufhebung bestanden.
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Auseinandersetzung mit Vertreibungen
Er mahnt aber ein, und das sollte mit aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, dass die politische Auseinandersetzung mit den Vertreibungen durchaus thematisiert werden sollte, da es während der Vertreibung auf der Basis einzelner Dekrete von Benes zu willkürlichen Übergriffen von Wächtern, Milizen und Teilen der Bevölkerung gekommen ist.
"Es mangelt an Courage"
Die Diskussion um die Benes-Dekrete zeigt sehr deutlich, dass es in der Gegenwart in der Europäischen Union an politischer Courage mangelt, notwendige kritische Auseinandersetzungen mit Langzeit-Folgen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft bereits auf politischer Ebene zu entscheiden.

Ähnlich wie in der Debatte um die so genannten EU-Sanktionen gegen Österreich, in der die NS-Vergangenheit bezüglich der Einschätzungen der Haider-FPÖ eine zentrale Rolle gespielt hat, ist die Europäische Union offensichtlich derzeit nicht in der Lage, selbständig politische Entscheidungsprozesse in Gang zu setzen.
"Vorgeschobene" Gutachten
Immer häufiger werden diverse Gutachten von Experten, vor allem aus dem Bereich der Jurisprudenz vorgeschoben, die aber letzten Endes auch nichts anderes leisten, als bekannte Fakten und Tatsachen zusammenzutragen und vor dem Hintergrund der entstehenden gemeinsamen europäischen Rechtsordnung zu interpretieren.

Bereits in der Frage der Aufhebung der Maßnahmen der EU-14 gegen die österreichische ÖVP-FPÖ Bundesregierung stellt sich die Frage, ob der Aufwand, der um und mit dem Weisenrat und dessen Gutachten, das in wesentlichen Punkten von Frowein formuliert wurde, betrieben wurde, wirklich notwendig war.

Jene KritikerInnen, die massiv eine Aufhebung der Benes-Dekrete verlangt haben, wurden von Frowein nicht bestätigt, aber er hält fest, dass auf der Basis dieser Dekrete die Eigentumsordnung der tschechischen Republik deutlich verändert wurde.
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Der Rahmen des Völkerrechtes
Letztlich orientiert sich das Völkerrecht immer an gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen in der internationalen Gemeinschaft, und hier zählt primär das Faktum, dass nach der Erweiterung für alle EU-BürgerInnen gleiche Rechte gelten - auch auf dem Territorium der tschechischen Republik nach noch zu vereinbarenden Übergangsfristen. Daher wird es nach Ablauf von Schutzfristen für Vertriebene der ersten und vor allem der zweiten Generation möglich sein, so sie dies überhaupt wünschen, in die Tschechische Republik zurückzukehren und auch dort Eigentum zu erwerben.
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Weitreichende Diskussion
Dahinter wird deutlich, dass eine rückwirkende Aufhebung der Benes-Dekrete in der Realität, eine wesentlich weiterreichende Diskussion über die Neuordnung Europas nach 1945 auslösen würde, mit destabilisierenden Eingriffen in die Eigentumsordnungen aller Ost- und Mitteleuropäischer Staaten (sowie von Teilen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion).
Gerichte und politische Debatten
Fragen der Entschädigung und Restitution sind daher durch dieses Gutachten zurück auf die Ebene der Gerichte aber auch der politischen Debatten geworfen worden.

Es bleibt zu hoffen, dass es der neuen tschechischen Regierung gelingt, die relativ klare Entscheidung zu benützen, sich hinter den politischen Aussagen des Präsidenten der Republik Tschechiens, Vaclav Havel, auch mit einer entsprechend klaren eigenen Aussage zu versammeln, um über diesen Weg auch die politische Diskussion um die Vertreibung zu beruhigen.
Symbolische Entschädigung
Es hat sich überdies gezeigt, dass der österreichische Alleingang in dieser Frage gescheitert ist, und es bleibt zu hoffen, dass die neue österreichische Bundesregierung in der Lage sein wird, die durchaus berechtigten Interessen der Vertriebenen auf einer anderen, und zwar auf einer gemeinsamen europäischen Ebene so zu vertreten, dass es sowohl zu einer klaren historisch-politischen Aussage, aber auch zu einer freiwilligen Diskussion in der Tschechischen Gesellschaft kommt.

Erst wenn dieser Prozess in Gang gesetzt wird, könnte auch eine symbolische Entschädigungsregelung, ähnlich wie dem österreichischen Nationalfonds oder dem so genannten Zwangsarbeiterfonds, entstehen.
Historischer Diskurs ohne "wenn und aber"
Durch die Radikalisierung der österreichischen Außenpolitik seit 2000 in der Frage der Benes-Dekrete ist der Sache selbst kein guter Dienst erwiesen worden, und es bleibt zu hoffen, dass es gelingt, diesen Konfliktpunkt aus einem ungewollten europäischen Diskurs in einen historischen Diskurs ohne wenn und aber zu überführen.

Durch dieses Gutachten Froweins, das vom Mainstream der EU-Diskurse zum Thema Vertreibung 1945 getragen ist, wurde auch klar, dass außer der FPÖ in Österreich niemand im Rahmen der EU derzeit bereit ist, die von der FPÖ im aktuellen Wahlkampf neuerlich artikulierte unbedingte Aufhebung der Benes-Dekrete politisch mitzutragen.
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Gastkommentar, Tagungsdokumentation, Neuerscheinung
Univ. Doz. Dr.Oliver Rathkolb ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Demokratiezentrums Wien. Im Juni 2002 veranstaltete das Demokratiezentrum eine vielbeachtete internationale Tagung zum Thema "Sudentenfrage/Benes-Dekrete". Eine aktualisierte Dokumentation der Tagung, weiterführende Artikel, ein Lexikon und und Links sind auf der Website des Demokratiezentrums abrufbar.

Von Barbara Coudenhove und Oliver Rathkolb ist kürzlich das Buch "Die Benes-Dekrete" im Czernin-Verlag erschienen.
->   Demokratiezentrum: Dokumentation "Benes-Dekrete"
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->   Czernin Verlag
->   Mehr über die Benes-Dekrete in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010