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"Peer Review" im Kreuzfeuer der Kritik  
  Der Betrugsfall um den deutschen Physiker Jan Hendrik Schön hat die wissenschaftliche Qualitätssicherung durch das "Peer Review"-Verfahren ins Zentrum aktueller Diskussionen gerückt. Während von offizieller Seite nur von einem "Ausnahmefall" die Rede ist, ortet der Linzer Wissenschaftsforscher Gerhard Fröhlich die Ursachen im System. Seine Untersuchungen belegen, dass die üblichen Gutachterverfahren uneinheitlich, intransparent sowie oft willkürlich sind - und daher auch Betrug und Fälschung nur selten ans Tageslicht bringen.  
Kritik in der Wissenschaft
Der österreichisch-britische Wissenschaftsphilosoph Karl Popper schrieb dem Unternehmen "Wissenschaft" eine besondere Eigenschaft zu. Wissenschaft sei, so Popper, von Ideologien oder Parawissenschaften dadurch abzugrenzen, dass aus deren Theorien Sätze abgeleitet werden können, die überprüf- und widerlegbar seien.

Diese Überprüfungen und Widerlegungen sind nach Popper Teil eines wissenschaftsimmanenten Prinzips: Die fortwährende Kritik stellt sicher, dass schlechte Theorien "ausgesiebt" werden.
Betrug und Fälschung
So weit die Theorie. Der Fall des deutschen Physikers Jan Hendrik Schön zeigt, dass es mit der hehren Wahrheitsliebe in der Wissenschaft nicht immer so gut bestellt sein muss. Wie science.ORF.at berichtete, war Nobelpreisanwärter Schön kürzlich wegen großangelegter Datenfälschungen von den renommierten Bell-Labs entlassen worden.
->   Nobelpreis-Anwärter als Fälscher entlarvt
Rigorose Kritik - ein Klischee?
Somit stellt sich die Frage, ob das Instrument der rigorosen wissenschaftlichen Kritik überhaupt funktionstüchtig ist, oder eher einem verbreiteten Klischee entspricht. Insbesondere in Bezug auf die institutionalisierte Form der wissenschaftlichen Kritik, dem so genannten "Peer-Review"-Verfahren, mehren sich die skeptischen Stimmen.
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"Peer Review": Ein Gutachterverfahren
Das "Peer Review" ist ein Gutachterverfahren, durch das die Qualität und Korrektheit wissenschaftlicher Veröffentlichungen, Projektanträge etc. sichergestellt werden soll. Üblicherweise bekommen ein oder mehrere anonyme Fachkollegen ("Peers") ein Manuskript zugesandt, das sie mit einer fachlichen Beurteilung versehen und gegebenenfalls Änderungen beanstanden ("Review"). Im Fall von eingereichten Artikeln machen die Herausgeber wissenschaftlicher "Journals" die Veröffentlichung (bzw. Ablehnung) meist von diesen Urteilen abhängig.
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"... prognostiziere Betrugswelle"
Gerhard Fröhlich, Wissenschaftsforscher an der Johannes Kepler Universität Linz, kann dem Fall "Schön" an den amerikanischen Bell-Labs zunächst etwas Positives abgewinnen:

"Die Top-Institutionen der USA wurden uns bisher immer als glänzendes Vorbild vorgehalten. Unser vielgeschmähtes Wissenschaftssystem ist aber in vieler Hinisicht humaner - es fördert (noch) nicht die rücksichtslose Konkurrenz 'jeder gegen jeden um jeden Preis'."

Dass die österreichische Forschungslandschaft in Bezug auf Betrugsfälle noch eine "Insel der Seeligen" sei, liege vorrangig eben daran:

"Da Wissenschaftler bisher als Beamte eingestuft waren, zahlte sich das Risiko einer Datenfälschung eben kaum aus. Wenn die 'Privatisierung' der Universitäten tatsächlich realisiert wird, und jeder nur mehr auf Schleudersitzposten ums Überleben kämpfen muss, dann prognostiziere ich auch hierzulande eine Betrugswelle."
Kein Grund zur Sorge?
Der Präsident des Wissenschaftsfonds Arnold Schmid hatte im Gespräch mit science.ORF.at gemeint, dass die Causa "Schön" kein Anlass sei, die prinzipielle Funktionstüchtigkeit des "Peer Review" in Frage zu stellen. Schmids Argument: Dass das System funktioniere, könne daran ersehen werden, dass etwa die "kalte Fusion" in der Physik als wissenschaftlicher Irrweg entlarvt wurde.

Dem hält Fröhlich entgegen: "Das mag für wirklich revolutionäre Konzepte zutreffen. Dass aber die Möglichkeit einer 'kalten Fusion' widerlegt wurde, liegt nicht daran, dass die Gutachter so gute Arbeit geleistet hätten, sondern vielmehr daran, dass sämtliche Forschergruppen diese Ergebnisse reproduzieren wollten."
"Gut gemachte Fälschungen sind nicht aufdeckbar"
Daraus schließt Fröhlich: Wenn Irrtümer oder Betrugsfälle aufgedeckt wurden, dann entweder durch die Plumpheit der Fälschungen oder durch die Initiativen von Fachkollegen. Das wichtigste Korrektiv der Wissenschaft sei daher weniger das "Peer Review", sondern eher (je nach Standpunkt) "Denunziation" bzw. "Zivilcourage" in der offenen Wissenschaftsgemeinde.

Abseits des Rampenlichts sehe es aber folgendermaßen aus: "Gut gemachte Fälschungen im Mainstream der Wissenschaft sind meist nicht aufdeckbar", so Fröhlich.
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Problem "Einzelstückbegutachtung"
Ein schwerwiegender Mangel der bisherigen Begutachtungen wäre aber laut Fröhlich leicht auszumerzen: "Die so genannte Einzelstückbegutachtung hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Hätten sich die Gutachter auch einige ältere Artikel von Schön und Coautoren angesehen, wären die Fälschungen (z.T. idente Abbildungen in verschiedenen Artikeln, Anm.) früher bemerkt worden."
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Kritik am "Peer Review"
Seine Kritik am "Peer Review" untermauert Fröhlich mit Ergebnissen empirischer Untersuchungen: Erstens gibt es gar nicht das "Peer Review", sondern viele, z.T. gänzlich unterschiedliche Systeme. Zweitens halten sich viele "Journals" bezüglich ihrer "Review"-Praxis bedeckt - und verwenden dieses eher als "Prestigeschmuck" denn als Mittel zur Qualitätsverbesserung.
Der Mythos der "strengen" Journale
Dies lässt sich auf folgenden Mythos zurückführen: Je höher die Abweisungsraten durch Gutachter, desto "strenger" (d.h. "hochwertiger") das Journal. Dass aber die Abweisungsraten vor allem von der Seitenzahl der betreffenden Magazine abhängig sind, wird dabei geflissentlich übersehen.

Und drittens ist durch "experimentelle" Studien nachgewiesen worden, dass die "Peers" nur einen Bruchteil von Fehlern erkannt haben, die von Wissenschaftsforschern absichtlich in Manuskripte eingebaut wurden.
Verbesserungen: Offene Diskussionen ...
Daher fordern eine Reihe von Fachleuten, dass die gängige Praxis der Qualitätsbewertung reformiert wird. Ansätze dafür gibt es bereits: So verlässt sich etwa das Fachmagazin "Atmospheric Chemistry and Physics" nicht mehr allein auf anonyme Gutachter, sondern veröffentlicht Artikel erst dann, wenn auch Fachkollegen auf dem "Preprint-Server" ihre Kommentare abgegeben haben.
->   Atmospheric Chemistry and Physics
... und Bezahlung für Gutachten
Ein anderer Vorschlag könnte auch dem "Peer Review" selbst zu neuer Güte verhelfen. Da das Erstellen von Gutachten in den meisten Fällen eine ehrenamtliche Tätigkeit ist, verwundert es eigentlich nicht, dass dieses System bisweilen Lücken aufweist. Daher fordert Fröhlich: "Gutachten müssen angemessen bezahlt werden, dann verbessert sich auch deren Qualität."

Robert Czepel, science.ORF.at
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Weitergehende Informationen zu diesem Thema
Gerhard Fröhlich: Von den Tempelwächtern der Wissenschaft
Gerhard Fröhlich: Anonyme Kritik - Peer Review auf dem Prüfstand der Wissenschaftsforschung (pdf-File)
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Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Kann wissenschaftliche Qualität gemessen werden?
->   Mehr Transparenz für wissenschaftliches Publizieren
->   Objektivität oder persönliche Interessen?
->   Die Zukunft der wissenschaftlichen Zeitschrift
 
 
 
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01.01.2010