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"Sandwichkinder": Benachteiligt trotz gerechter Eltern  
  Viele Kinder fühlen sich im Vergleich zu ihren Geschwistern benachteiligt. Die meisten Eltern behaupten dagegen, dass ihnen ihre Kinder gleich lieb und teuer seien. Psychologen haben nun gezeigt, dass beide Parteien Recht haben könnten. Paradoxerweise führt gerade die gerechte Aufteilung von Zeit und Geld auf die Kinder zu Nachteilen speziell für die "Sandwichkinder".  
Das theoretische Modell von Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin basiert auf einer einfachen Berechnung - und deckt sich mit Daten aus zahlreichen empirischen Studien zur Ungleichbehandlung dieser "in der Mitte geborenen Kinder".
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Die Original-Studie von Ralph Hertig, Jennifer N. Davis und Frank J. Sulloway ist unter dem Titel "Parental Investment: How an Equity Motive Can Produce Inequality" in der aktuellen Ausgabe des Psychological Bulletin (Bd. 128, Nr. 5, S. 728-745) erschienen.
->   Original-Abstract
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Genetisch gleich wichtig, kulturelle Unterschiede
Geschwisterneid ist so alt wie die Menschheit. Zwar stehen den Eltern ihre leiblichen Kinder - "genetisch betrachtet" - alle gleich nah, doch in Wirklichkeit waren die Rollen und Chancen der Kinder je nach ihrem Geschlecht und Rang in der Geburtenfolge schon immer sehr verschieden. In vielen Kulturen wurden und werden die ältesten Söhne vor allen anderen ausgezeichnet.
Trend zur Gleichbehandlung
Doch in modernen Gesellschaften scheint sich der Trend unter Eltern durchzusetzen, die Kinder "gleich" zu behandeln. Die einfache Überlegung der Studienautoren zeigt nun aber, dass selbst bei mathematisch exakter Teilung von Zeit, Geld und allen anderen Ressourcen die mittleren Kinder insgesamt benachteiligt bleiben.
Gleichverteilungsheuristik
Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und seine Kollegen Frank J. Sulloway von der University of California und Jennifer N. Davis von der Humboldt-Universität in Berlin stellten ein schlichtes Modell auf - eine "Gleichverteilungsheuristik".

Dabei nahmen sie an, dass Eltern zu jedem Zeitpunkt ihre Ressourcen wie Nahrung, Geld, Zeit etc. vollkommen gerecht auf die vorhandenen N Kinder verteilen. Alle X Jahre bekommen sie ein weiteres Kind und N erhöht sich auf N+1.
Ressourcen-Kontos wachsen unterschiedlich
Im Lauf der Jahre summieren sich die Zuwendungen, die die Kinder erhalten, doch je nach ihrem Rang in der Geburtenreihenfolge ist ihr "Kontostand" verschieden hoch angewachsen: Denn die Erstgeborenen müssen die ersten X Jahre nicht teilen und die darauf folgenden X Jahre zunächst nur mit einem einzigen Geschwister.
Nachteile für die "Sandwichkinder"
Günstig wird die Bilanz auch für die allerjüngsten Kinder, aber erst am Ende ihrer Jugendzeit: Da die älteren Geschwister mit der Zeit selbständig werden, können dann auch die Nesthäkchen von den ungeteilten Ressourcen profitieren.

Rein rechnerisch ergibt sich ein Nachteil für die "Sandwichkinder", also für die in der Mitte Geborenen. Dieser Nachteil ist umso größer, je mehr Geschwister vorhanden sind und je geringer der Geburtenabstand ausfiel.
Stärke der Effekte hängt von Ressource ab
Diese Effekte können je nach Ressource aber unterschiedlich ausfallen. "Es gibt Ressourcen, die lebensgeschichtlich tendenziell gleich bleiben, weil sie limitiert sind - wie etwa Zeit oder elterliche Zuwendung. Bei ihnen sind die beschriebenen Effekte am stärksten", so Studienautor Hertwig gegenüber science.ORF.at.

Bereits bei der Ressource Einkommen ist das ganze komplexer. In materiellen Fragen können die Benachteiligungs-Effekte zum Teil kompensiert werden - durch ein im Laufe der Jahre höheres Einkommen der Eltern.

Die Gleichverteilungsheuristik stellt aber auf jeden Fall eine "Idealisierung" dar, so Hertwig. Das heißt, die Autoren unterstellen nicht, dass alle Eltern diese Heuristik verwenden, sondern sie fragen sich, welche Konsequenzen folgen, wenn sie eine solche Heuristik benutzen.
Bestätigung früherer Studien
Dass gerade die "Sandwichkinder" sich oft benachteiligt fühlen, war aus verschiedenen Studien bekannt, wurde aber bisher im Rahmen wesentlich komplexerer Familienmodelle interpretiert.

Hertwig und seine Kollegen haben nun neun vorhandene Studien über Geschwister und ihre unterschiedlichen Lebenschancen neu ausgewertet und gezeigt, dass ihr einfaches Modell einen Erklärungsansatz bietet.
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Beispiele von Ungleichbehandlungen
So belegen Studien, dass jüngere Geschwister häufiger eine lückenhafte Impfgeschichte aufweisen als die ältesten Geschwister, die sich noch der ungeteilten Sorge der Eltern erfreuen konnten. In kinderreichen Familien auf den Philippinen stellten Wissenschaftler fest, dass die mittleren und jüngeren Kinder im Schnitt eine geringere Körpergröße erreichten - ein Hinweis auf unzureichende Ernährung in ihren ersten Lebensjahren, in denen sie schon mit mehreren Geschwistern teilen mussten.

Auf einen späten Vorteil für die jüngsten Geschwister weisen Studien aus den USA hin: Eltern finanzieren ihren jüngsten Kindern mit höherer Wahrscheinlichkeit eine lange und kostspielige Ausbildung, weil die älteren Geschwister dann schon finanziell unabhängig geworden sind. Oft allerdings gezwungenermaßen und relativ zügig, um ihren Eltern nicht mehr auf der Tasche zu liegen.
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Dilemma der Fairness
Die Gleichverteilungsheuristik von Hertwig und seinen Kollegen zeigt, dass Gerechtigkeit kein einfaches Unterfangen ist: Gerade die gleiche Aufteilung von Ressourcen führt eben nicht zu gleichen Chancen.

Wie sich egalitäre Eltern in Zukunft verhalten sollen - darauf weiß auch Ralph Hertwig keine Antwort. "Bei unserer Studie ging es uns vor allem darum, auf die Tatsache hinzuweisen, dass gleiche Behandlung paradoxerweise zu Ungleichheit führen kann", meint er gegenüber science.ORF.at. Das Ganze zeige ein Dilemma auf, "aus dem man gar nicht so einfach rauskommt".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
idw
->   Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
->   Psychological Bulletin
 
 
 
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01.01.2010