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Im Netzwerk der Erinnerung  
  Am Anfang sind alle Erinnerungen nur ein flüchtiges Muster elektrischer Aktivitäten im Gehirn. Am Ende stehen stabile Gedächtnisinhalte, unsere Erfahrungen. Sie prägen unser Denken, Fühlen und Handeln. Was dazwischen passiert - wenn Botenstoffe, Genregulatoren und Proteine in dem komplexen Netzwerk von über 100 Milliarden Nervenzellen mit mehreren hundert Billionen Kontaktstellen interagieren - das verstehen Neurowissenschaftler dank bildgebender Verfahren immer besser.  
Hippocampus: Anker für unsere Erinnerungen
Anatomisch betrachtet ist der Hippocampus der Anker für unsere Erinnerungen. Der Hippocampus ist eine Seepferdchen ähnliche Struktur im Gehirn, in der Tiefe des Schläfenlappens.

Er ist die Schleuse, durch die Kurzzeiterinnerungen in das Langzeitgedächtnis abgelegt werden. Fällt der Hippocampus aus, bleibt die Zeit für uns stehen. Wir können keine neuen Informationen mehr speichern. Weder sachliche noch emotionale.
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Berühmtes Fallbeispiel
In der Gedächtnisforschung besonders bekannt ist der Fall des Patienten H.M., bei dem mit 23 Jahren der Hippocampus auf Grund schwerer epileptischer Anfälle entfernt wurde. Der Patient H.M. - heute 75 Jahre alt - kann sich seither nichts Neues mehr merken. Stellt man ihm beispielsweise eine halbe Stunde nach dem Mittagessen einen vollen Teller vor, isst er auch den leer, weil er sich nicht an das Mittagessen erinnern kann.
->   Gedächtnisforschung und der Fall H.M. (Uni Aachen)
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Vier Gedächtnisse
Jeder Mensch hat vier weitgehend voneinander unabhängige Gedächtnisse. Davon ist der Bielefelder Psychologe und Gedächtnisforscher Hans Markowitsch - nach Beobachtung von Gedächtnisstörungen - überzeugt. Gemeinsam mit seinem kanadischen Kollegen Endel Tulving hat Markowitsch eine inzwischen weitgehend akzeptierte Systematik der Gedächtnisse entworfen.
Vom autobiographischen ...
Das hierarchisch höchststehende Gedächtnis ist das episodisch-autobiographische Gedächtnis. Es ist auch das anfälligste für Hirnkrankheiten und psychiatrische Störungen. Hier speichern wir Episoden unseres Lebens, emotional stark eingefärbt und in einem klaren zeitlichen Rahmen

Ganz anders das Wissensgedächtnis, manchmal auch als semantisches Gedächtnis bezeichnet. Da geht es um reine Fakten. Da weiß man zum Beispiel: H2O steht für Wasser oder zwei mal zwei ist vier. Autobiographisches Gedächtnis und Wissensgedächtnis sind uns bewusst. Deshalb spricht man bei diesen beiden Formen vom bewussten oder deklarativen Gedächtnis.
... bis zum prozeduralen Gedächtnis
Im Unterschied dazu gibt es das unbewusste oder implizite Gedächtnis. Und auch hier gibt es wieder zwei Subtypen. Das Priming Gedächtnis und das prozedurale Gedächtnis. Im prozeduralen Gedächtnis ist die Motorik gespeichert, z.B. Radfahren. Bewegungen, die wir - einmal erlernt - nun automatisch beherrschen.

Das Priming Gedächtnis hat damit zu tun, dass man Reize, denen man schon einmal begegnet ist, wiedererkennt. Die Werbung baut auf dieses Gedächtnis. Wird in einem Werbespot ein Artikel präsentiert, identifiziert ihn das Priming Gedächtnis im Geschäft als irgendwie vertraut und das lässt den Kunden unbewusst zu diesem Produkt greifen. Priming Gedächtnis und prozedurales Gedächtnis sind sehr stabil. Sie versagen selten.
->   Mehr über die "Vier Gedächtnisse"
Verschiedene Sphären des Ichgefühls
Die unterschiedlichen Gedächtnisse sitzen an völlig verschiedenen Teilen im Gehirn. Das hat man mit bildgebenden Verfahren nachgewiesen. Je nach Hirnschädigung gehen bestimmte Gedächtnisinhalte verloren und damit auch bestimmte Teile des Ich. Am stärksten mit dem Ichgefühl verbunden ist das episodisch-autobiographische Gedächtnis.

Eine für die Erinnerung und das Ichgefühl höchst interessante Struktur im Gehirn ist der so genannte retrospleniale Cortex. Er liegt hinter dem Balken, der unsere beiden Hirnhälften verbindet. Hier werden Emotionen abgespeichert, hat der Jülicher Neurologe Gereon Fink kürzlich nachgewiesen.
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Erhöhte Gehirnaktivität bei Eigen-Portraits
Mit der Erinnerung an Gesichter und ihrer Bedeutung für das Ich-Bewußtsein beschäftigt sich der Tübinger Psychiater Tilo Kircher. Er hat gezeigt, dass große Hirnareale erregt werden, wenn Menschen Bilder ihres eigenen Gesichts sehen. Beim Anblick von Fotos anderer Menschen, auch vertrauter, werden hingegen nur winzige Hirnareale erregt. Eine mögliche Schlussfolgerung könnte sein, dass der Anblick des eigenen Gesichts Menschen dazu veranlasst, über sich selbst nachzudenken. Schizophrene Menschen reagieren auf ihr eigenes Gesicht wesentlich weniger stark als nicht schizophrene Menschen. Das könnte eine Erklärung für ihr brüchiges Ichgefühl sein.
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Ich- und Körpergefühl
Der Jülicher Psychiater und Philosoph Kai Vogeley hat ein Region im Gehirn identifiziert, die für die Ich-Perspektive eines Menschen die zentrale Rolle spielt, für das Gefühl, dass sich die Welt um den eigenen Körper dreht. Die betreffende Region liegt rechts im Bereich zwischen Schläfenlappen und Scheitellappen.

Genau in dieser Region ist auch das Körpergefühl eines Menschen verankert. Dieser Befund legt also nahe, dass Ichgefühl und Körpergefühl untrennbar miteinander verbunden sind, zumindest im Normalfall. Bei schizophrenen Menschen ist das anders. Auch das hat Kai Vogeley nachgewiesen.
Sind Erinnerungen Körpererinnerungen?
Der Zusammenhang zwischen Identität und Körpergefühl wird in der Neurowissenschaft heftigst diskutiert. Losgetreten hat die Diskussion der amerikanische Neurologe Antonio Damasio. In seinem Buch "Ich fühle, also bin ich" behauptet er, dass sich Menschen - ähnlich wie Tiere - über ihren Körper erfahren. Dass Erinnerungen Körpererinnerungen sind.

Hans Markowitsch teilt die Auffassung Antonio Damasios nicht. Er räumt ein, dass Damasios Theorie im Regelfall zwar zutreffe, aber sie sei nicht essenziell. Das ergäben Beobachtungen an Patienten.
Alzheimer-Patienten: "Durchlöcherte Identität"
Wie steht es um das Ichbewusstsein von Alzheimer-Patienten? Wer sich nicht erinnern kann, dem geht die Identität verloren, sagen die einen. Nein, eine Kernidentität bestehe immer noch, meinen die anderen. Hans Markowitsch spricht von einer "durchlöcherten Identität".

Der Heidelberger Psychiater Johannes Schröder gibt zu bedenken, dass man nicht weiß, ob Alzheimer Patienten keine Erinnerungen mehr haben, oder ob ihnen nur der Zugriff auf die Erinnerungen fehlt.
Traumatische Erlebnisse als Auslöser
Bei Alzheimer-Patienten verändert sich der Hippocampus, die zentrale Erinnerungsschleuse, sehr früh. Das spricht dafür, dass die Erinnerungen für Alzheimer Patienten - zumindest zu Beginn - nicht weg, sondern nur unzugänglich sind.

Als Auslöser für Gedächtnis-Verlust werden traumatische Erlebnisse diskutiert, vor allem frühe, langandauernde traumatische Erlebnisse wie sexueller Missbrauch, Misshandlungen oder Vernachlässigung.

EIn Beitrag von Maria Mayer für das Salzburger Nachtstudio
am 30. 10. um 21.01 Uhr im Programm Österreich 1
->   Radio Österreich 1
->   Mehr zum Thema "Gedächtnis" in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010