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Bildersprache als neue Wissenskultur  
  Der Philosoph, Ökonom und Sozialreformer Otto Neurath gilt als Begründer der Bildstatistik "Isotype" - ein Visualisierungssystem, das komplexe Zusammenhänge durch einfache Piktogramme darzustellen vermag. Eine neue Publikation betont die Aktualität der Neurathschen Bildersprache im Kontext von Informationsdesign, Medien und Kommunikation. Co-Autor und Herausgeber Frank Hartmann stellt für science.ORF.at das Buch "Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen" in einer Kurzfassung vor.  
"Eindruck ... der Bilder"
von Frank Hartmann

Die Wurzeln der sich gegenwärtig formierenden Informationsgesellschaft sind nicht nur technischer Natur. Neue Konzepte zur Optimierung und zur Verbreitung von Wissen reagierten schon früh auf die Erfordernisse einer neuen, modernen Zeit:

"Wer schnellen und bleibenden Eindruck machen will, bedient sich der Bilder". Das erkannte Otto Neurath (1882-1945) bereits in den zwanziger Jahren, als er sich daran gemacht hatte, die Darstellung wissenschaftlichen Datenmaterials einer Radikalkur zu unterziehen.
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Das Buch
"Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen" von Frank Hartmann und Erwin K. Bauer erschien im WUV Universitätsverlag (2002). Hierin wird das Visualisierungssystem "Isotype" einer Rekonstruktion unterzogen. Aktuelle Stellungnahmen zu Neuraths Bildersprache von verschiedenen Theoretikern und Designern betten die Problamatik der Visualisierung in den gegenwärtigen Kontext des digitalen Zeitalters
->   Mehr Informationen zum Buch unter www.neurath.at
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Neuraths Bildstatistik "Isotype"
Neurath, Wiener Sozialphilosoph und Ökonom, entwickelte über seine Auftragsarbeiten die "Wiener Methode" der Bildstatistik, die im politisch erzwungenen Exil dann "Isotype" genannt wurde: International System of Picture Education.

Diese in Kooperation mit dem deutschen Grafiker Gerd Arntz neu konzipierte Bildersprache privilegiert die multimediale Darstellung und eine entsprechend vielseitige Anwendung.
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Veranschaulichung durch Zweidimensionalität
Gegenüber der linearen Schrift in Druckzeilen hatte sie den Vorteil, unter Ausnutzung der Zweidimensionalität von Druckbögen und Schautafeln vor allem Bezüge, zeitliche Entwicklungen und Konstellationen zu veranschaulichen.

Neurath griff dabei auf ein didaktisches Konzept zurück, das der böhmische Volkspädagoge Jan Comenius Anfang des siebzehnten Jahrhunderts für Schulbücher angewendet hat - den "Orbis Pictus" als Bild-Text-Stil, der eine mehrdimensionale Aneignung erlaubt.
->   F. Hartmann: "Otto Neuraths revolutionäre Bildpädagogik"
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Der Zweck: "Soziale Aufklärung"
Neurath Visualisierungen hatten zunächst den konkreten Zweck, die Öffentlichkeit über das Wohnbauprogramm der Gemeinde Wien zu informieren, über sozialhygienische Maßnahmen aufzuklären, aber auch die Mechanismen der Weltwirtschaft transparent zu machen. "Soziale Aufklärung" war das Stichwort für diese Projekte, die zum Ziel hatten, die konkrete Lebenslage der Menschen zu verbessern.
Elend der 30er-Jahre
Da Wohn- und Arbeitsverhältnisse in der Zwischenkriegszeit besonders im städtischen Ballungsraum desolat waren, und auch hygienische Probleme (Säuglingssterblichkeit, Tuberkuloseerkrankungen) gegeben waren, kannte die fraglos nützliche Sozialwissenschaft damals kein Legitimationsproblem:

"Die meisten Menschen interessiert es vor allem zu erfahren, woher es kommt, dass in Zeiten höchster technischer Entwicklung Mangel und Elend herrschen..." schrieb Otto Neurath 1933 im Wiener Gemeindeblatt.
Zivilisationsatlas als Endziel der Aufklärung
Es ging also keineswegs nur um die Entwicklung der berühmten Piktogramme. Am Ende der visuellen Aufklärungsarbeit sollte ein internationaler Zivilisationsatlas stehen, eine unabhängig vom jeweiligen Bildungsstand funktionierende und für alle zugängliche Möglichkeit zur Navigation im Gesamtpool des gesellschaftlichen Wissens.

Neurath forderte: "Der gewöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wissen von Karten und Atlanten erhalten kann."
Das Museum der Zukunft kommt zu den Menschen
Ein erster Schritt in diese Richtung war ein völlig neues Museumskonzept. Die primäre Frage dabei war, wie das Wissen zu denen kommt, die es brauchen. Dazu muss es aus Amtsstatistiken und Fachbüchern auf die Schautafeln gebracht und öffentlich ausgestellt werden.

Das Museum der Zukunft kommt zu den Menschen - in die Volkshalle des Wiener Rathauses beispielsweise fanden auch Menschen den Weg, die vor den Musentempeln des Bildungsbürgertums gewöhnlich Halt machten.
Erste Publikumsbefragungen
Weiter ging die Überlegung: arbeitende Menschen finden in den traditionellen Museen nichts von aktuellem Interesse. Als vielleicht erster "Medienwirkungsforscher" hat Neurath nicht nur Publikumsbefragungen durchgeführt.

Sein Konzept sah auch das Einbeziehen von Publikumsinteressen in die Ausstellungsplanung vor, damit es letztlich nicht nur zu sehen gibt, was den Ausstellungsmacher selbst interessiert.
Experimentierfeld öffentliche Kommunikation
Neurath experimentierte mit allen denkbaren Formen der öffentlichen Kommunikation. Schautafeln, Reliefs, bewegliche Modelle, Trickfilme ¿ eine Beschränkung der Mittel zur Entwicklung von geeigneten Medien des Wissens kannte er nicht.

Generell wurden Logik und Argumentationskraft von Bildern gegenüber Texten aufgewertet. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten der Montage als medialer Schlüsseltechnologie des 20. Jahrhunderts in wissenschaftlicher seriöser Weise genutzt.

Es sollte mehr erreicht werden als bloß die Veranschaulichung empirischer Fakten: nämlich die gesellschaftspolitische Anwendung des Wissens.
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Neuraths Bildersprache - bis heute modern
Die neue Bildersprache, die dabei in Teamarbeit entwickelt worden ist, hat bis heute ihre ursprüngliche Frische erhalten. Ob Bilder die Sprache ersetzen, war dabei nicht so sehr eine Frage wie die, wie Bilder zum erfolgreichen Einsatz neben der Schrift beschaffen sein müssen. Das gegenwärtig unendlich erweiterte Repertoire der Sichtbarkeiten generiert freilich neue Probleme des Designs und der kulturellen Codierung. In vielen Bereichen der technologischen Anwendung kommen heute wie selbstverständlich Codes jenseits der Schrift und auch der verbalen Artikulation zu Zug. Damit rücken neue Konfigurationen des Denkens ins Zentrum einer postmodernen Kultur.
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Die Isotype-Grafiken im Rahmen einer Ausstellung in der Wiener Volkshalle zu Beginn der 1930er-Jahre.
Zusammenhänge darstellen, nicht illustrieren
Neuraths Methode zielte auf die Darstellung und Verdeutlichung von Relationen und sozialen Verhältnissen. Die Bildersprache wurde nicht systematisiert um etwas zu illustrieren, sondern um sonst nicht wahrnehmbare Relationen und Zusammenhänge ins Bewusstsein zu heben und Diskurse über diese Dinge zu initiieren.

Das Vermächtnis von Neuraths Programm ist, dass die neuen Bildwelten einer aufmerksamen Gestaltung bedürfen und dass ein geschultes Wissen um die Herstellung und die Organisation der neuen kulturellen Oberflächen von entscheidender Bedeutung ist.
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Die Autoren
Dr. Frank Hartmann ist Wissenschaftsautor und Dozent für Medientheorie am Publizistik-Institut der Universität Wien.

Erwin K. Bauer ist Designer und Lehrbeauftragter an der Universität für Angewandte Kunst Wien.
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01.01.2010