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Stabheuschrecken brechen Evolutionsregel  
  Eine bekannte Regel in Lehrbüchern der Evolutionsbiologie lautet: Die Evolution von komplexen Organen ist unumkehrbar. Stabheuschrecken scheinen uns nun eines Besseren zu belehren: Amerikanische Biologen fanden heraus, dass diese Insekten im Laufe ihrer Evolution ihre Flügel verloren und 50 Millionen Jahre später wiederentwickelt haben.  
In den Augen der Fachleute ist das eine Sensation: Die Natur hält sich offensichtlich nicht an jenes eherne Evolutionsgesetz, das ihr einst von dem belgischen Paläontologen Luis Dollo vorgeschrieben wurde.

Den Herausgebern der Zeitschrift "Nature" war diese Publikation eine Titelseite wert - und auch Lehrbuchautoren können schon mal das eine oder andere Kapitel umschreiben.
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"Loss and recovery of wings in stick insects"
Die Arbeit "Loss and recovery of wings in stick insects" von Michael F. Whiting, Sven Bradler und Taylor Maxwell erschien in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature" (Band 421, auf den Seiten 264-267).
->   Nature
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Evolution als historischer Prozess
Ob die Naturgeschichte durch Naturgesetze zu beschreiben ist oder nicht, ist eine alte Streitfrage. Festzuhalten bleibt grundsätzlich zweierlei. Erstens: Die Evolution ist ein historisches Phänomen.

Das heißt, ihr gesamter Ablauf hat auf der Erde genau einmal stattgefunden - und kann auch nicht wiederholt werden. Das unterscheidet die Evolutionsforschung von experimentellen Wissenschaften, die isolierte Ereignisse beliebig oft reproduzieren können.
Regeln der Naturgeschichte
Zweitens spricht man deswegen besser nicht von Gesetzen (wie etwa in der Thermodynamik oder klassischen Mechanik), sondern besser von Regeln oder Trends im Evolutionsablauf.

Derer gibt es viele: Zum Beispiel der Trend zur Größenzunahme in Kaltgebieten oder die Regel, dass unspezialisierte Baupläne besser für evolutionär neue Anpassungen bzw. Konstruktionen geeignet sind. Eine besonders bekannte ist jene Regel, die nach dem belgischen Paläontologen Luis Dollo benannt ist: Sie besagt kurz gefasst, dass die Evolution nicht rückwärts verlaufen kann.
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Die Dollosche Regel im Detail
Das bedeutet zunächst nicht, dass Mutationen, so sie einmal eingetreten sind, nicht wieder rückgängig gemacht werden können. Zur Präzisierung: Das von Dollo ausgesprochene Reversibilitätsverbot bezieht sich nur auf komplexe Organe (wie Augen, Beine, Flügel etc.) und ist - in seiner modernen Version - ein Wahrscheinlichkeitsargument. Die Argumentation baut darauf auf, dass ein komplexes Organ durch viele genetische Einflüsse entwickelt wird und außerdem wechselweise an andere Organsysteme angepasst werden muss. Im Fall eines Insektenflügels bedeutet das, dass etwa auch Muskeln und Nerven damit funktionstüchtig verbunden werden müssen.

Ist ein solches Organ einmal in der Evolution zurückgebildet worden, dann kann es laut der Dolloschen Regel nicht wiedergewonnen werden. Und zwar deswegen, weil es extrem unwahrscheinlich ist, dass alle genetischen Abänderungen Schritt für Schritt aufgehoben werden, die zur Rückbildung geführt haben.
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"Use it or lose it" - nicht immer gültig
Dieses evolutionäre Prinzip "Use it or lose ist" kannte bis dato auch keine Ausnahme. Daher war die Überraschung groß, als Michael F. Whiting von der Brigham Young University, Utah, mit seinen Mitarbeitern einen Datensatz veröffentlichte, der das klare Gegenteil beweist.
Stammbaum widerlegt Dollo
Bild: Allison Whiting/BYU
Leprocaulinus, Papua-Neuguinea.
Whiting und sein Team analysierten den Verwandtschaftsbaum der Stabheuschrecken anhand ihrer ribosomalen DNA und einem Histonprotein. Diese Insektengruppe ist vor allem deswegen bekannt, weil sich eine Reihe ihrer Vertreter dadurch tarnen, indem sie Zweige oder Blätter täuschend echt imitieren.

Das Ergebnis der Untersuchung: Der Stammbaum der Stabheuschrecken zeigt eindeutig, dass deren Vorläufer bereits flügellos gewesen sind. Das bedeutet, dass alle heute lebenden geflügelten Arten ihre Flugfähigkeit etwa 50 Millionen Jahre später durch eine Flügelneubildung wiedererlangt haben. Ein Ereignis, das nach der Dolloschen Logik viel zu unwahrscheinlich ist, als dass es hätte passieren dürfen.
->   Mehr zu Stabheuschrecken bei phasmatodea.com
Die Erklärung: Stillegung statt Auslöschung
Bild: Allison Whiting/BYU
Phasma gigas, Papua-Neuguinea.
Whiting bietet zunächst folgende Erklärung für dieses Phänomen an. Er meint, dass "Rückbildung" nicht zwangsläufig genetische Auslöschung bedeuten muss: "Auch wenn ein Flügel physisch nicht vorhanden ist, die genetische Grundlagen der Flügelbildung scheinen über evolutionäre Zeiträume konserviert worden zu sein. Dies legt nahe, dass Komplexität über mehrere Millionen Jahre erhalten bleiben kann."
Rückgriff auf Aufsehen erregende Entdeckung
In ihrer Publikation nehmen die Autoren auf eine Entdeckung Bezug, die im Jahr 1995 vom Schweizer Genetiker Walter Gehring gemacht worden war. Dieser hatte entdeckt, dass es für die Augenentwicklung einen genetischen Schalter gibt, der die Kaskade der Organbildung steuert (Science 167, S.1788).

Gehring hatte später vorgeschlagen, dass sämtliche augentragenden Organismen ihr Augenlicht einzig der Existenz des "Master-Gens" Pax-6 verdanken. Daraufhin entbrannte eine heiße Diskussion um die Frage, ob damit einem genetischen Reduktionismus gehuldigt werde.
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Siehe hierzu die Diskussion zwischen Walter J. Gehring und W. J. Dickinson sowie Jon Seger in Science (Band 272, auf den Seiten 467-471).
->   Zu den Artikeln (kostenpflichtig)
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Master-Gene stützen Interpretation
Aber auch wenn Gehrings Hypothese nicht zutrifft, unterstützt die Existenz von solchen Master-Genen den Erklärungsansatz von Whiting: Seiner Interpretation zufolge seien Flügel im Reich der Insekten nur einmal entstanden - und im Lauf der Evolution durch Mutationen an einzelnen molekularen Schaltern stillgelegt bzw. reaktiviert worden.

Robert Czepel, science.ORF.at
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01.01.2010