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Sprunghafte Entstehung der Sprache?  
  Der Übergang vom bedeutungslosen Stammeln zur sprachlichen Kommunikation scheint nach den Erkenntnissen zweier Physiker nicht Schritt für Schritt stattgefunden zu haben. Gemäß ihrem Modell ist die Bildung der Sprache durch ein sprunghaftes Ereignis gekennzeichnet. Und: Wir befinden uns nach wie vor in dieser Phase.  
Die Folgerungen aus der theoretischen Arbeit von Ramon Ferrer i Cancho und Ricard V. Sole vom Complex System Lab in Barcelona stehen damit im Gegensatz zu zentralen Annahmen vieler Linguisten: Nämlich jene, dass unsere kommunikativen Fähigkeiten durch eine graduelle Evolution entstanden seien.
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"Least effort in human language"
Die Arbeit "Least effort and the origins of scaling in human language" von Ramon Ferrer i Cancho und Ricard V. Sole erschien in der aktuellen Ausgabe der "Proceedings iof the National Academy of Sciences" (4. Feb. 2003, Band 100, S. 788-91).
->   Zum Abstract der Studie
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Modell: Senden und Empfangen mit geringem Aufwand
Die beiden Autoren gingen beim Aufbau ihres Modells von einer grundlegenden Überlegung aus: Sie meinen, dass Sender und Empfänger eines Kommunikationssystems jeweils unterschiedliche Interessen verfolgen.

Das heißt konkret: Der Sprecher ist daran interessiert, seinen "Arbeitsaufwand" möglichst gering zu halten und daher einfache Botschaften zu senden.
Häufige Wörter sind nicht immer eindeutig
Das Problem dabei: Je weniger Wörter eine Sprache besitzt, desto vieldeutiger ist sie. Mit anderen Worten, der Empfänger wird genötigt herauszufinden, was eine Botschaft nun wirklich bedeutet.

Dies widerspricht wiederum der Intention des Rezipienten. Denn dieser ist seinerseits an eindeutigen Informationen interessiert - und drängt daher auf die Verwendung eines möglichst vielfältigen Vokabulars.
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Sprachlicher Interessenskonflikt: Zwei Extremformen
In diesem Wechselspiel der Motive sind zwei theoretische Endpunkte vorstellbar. Erstens eine Sprache ohne jegliche Vieldeutigkeit: Hier müsste es für jedes Ding, und jede Handlung einen eigenen Namen geben. So müsset sich etwa das "Grün" das Waldes von jenem der Gräser, des Meeres oder der Weinflasche unterscheiden. Das Ergebnis: Eine extrem komplizierte Sprache mit hohem Aufwand für den Sprecher - und geringem für den Empfänger. Genau umgekehrt verhält es sich im anderen Extremfall: Eine Sprache mit nur einem Vokabel, bei der die Feststellung der Bedeutung ganz beim Adressaten liegt.
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Sprecher sind tatsächlich faul
Aus empirischen Untersuchungen weiß man, dass Sprecher tatsächlich die häufigen (und daher vieldeutigeren) Worte bevorzugen. Dies lässt sich auch in statistischer Hinsicht ausdrücken: Bereits in den 1940er-Jahren stellte der Psychologe George K. Zipf fest, dass ein negativer Zusammenhang zwischen der Länge und der Auftrittshäufigkeit eines Wortes besteht.
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Das Zipfsche Gesetz
Das nach dem amerikanischen Psychologen George K. Zipf benannte Gestz besagt, dass kurze Wörter häufig und lange selten benutzt werden. Dies lässt sich statistisch durch eine so genannte "Power law"-Verteilung ausdrücken, die im Rahmen der Netzwerktheorie auch in vielen anderen Systemen entdeckt wurde. So können etwa die Verteilungen von DNA-Abschnitten im Genom oder jene des Einkommens in der Bevölkerung durch ganz ähnliche Gesetze beschrieben werden.
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Vom Grunzen zum Griechischen in einem Sprung
Ferrer i Cancho und Sole berechneten nun, welche Eigenschaften ein "Lexikon" von Sprachelementen aufweisen muss, um dem Interessenskonflikt von Sender und Empfänger zu genügen.

Nach ihrem Modell findet der Übergang von einer Ein-Wort-Sprache zu jener mit einem erschöpfenden Vokabular durch einen dramatischen Wechsel (einen so genannten Phasenübergang) statt.

Dieser Übergang sei, so die beiden Physiker, durch eine Verteilung gekennzeichnet, wie sie bereits von G.K. Zipf beschrieben worden ist.
Revolution statt Evolution
Mit anderen Worten: In der Struktur der menschlichen Sprache findet sich der Widerhall jenes revolutionären Übergangs, der von rudimentären Sprachbegabung zu reichhaltiger Verständigung führte. In ihrer Arbeit widersprechen die beiden Autoren damit jeglichen stetig-evolutionären Vorstellungen, seien sie nun linguistisch oder biologisch motiviert.
Sprachentstehung: Wir befinden uns mittendrin
Besonders bitter für Homo sapiens: Nach ihrem Modell befindet sich die menschliche Sprache noch immer im Stadium des Phasenüberganges. Boshaft gesprochen hieße das: "Das Missing link zwischen dem Neandertaler und dem wahrhaft sprachbegabten Menschen sind wir."
Mehr über Sprache in science.ORF.at:
->   Wie das Gehirn Inhalt und Form von Sprache verarbeitet
->   Die molekulare Evolution des "Sprach-Gens"
->   Sprachverarbeitung im Gehirn
 
 
 
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01.01.2010