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Mittelalterliche Weltkarten: Realer und virtueller Raum  
  Die realen und virtuellen Räume verschmelzen in vielen mittelalterlichen Weltkarten. Dabei handelt es sich weniger um Weltkarten mit Gebrauchswert, die als Landkarte bei einer Reise gedient hätten, sondern eher um die Veranschaulichung religiöser Ansichten.  
So sind die geografischen Grenzen des Christentums auch ontologische Grenzziehungen: Phantasie-Geschöpfe bevölkern gerade jene Regionen, die "außerhalb" des Christentums stehen. Mittelalterliche Weltkarten waren ein Thema bei der Mediävisten-Tagung "Virtuelle Räume" in Krems.
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Tagung "Virtuelle Räume"
Unter dem Titel "Virtuelle Räume" waren Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter Themen eines internationalen Kongresses in Krems, veranstaltet vom Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (IMAREAL).
->   IMAREAL
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Phantasie neben Realität
Phantastische Elemente wie Wolfsmenschen oder die Antipoden vermengen sich auf mittelalterlichen Weltkarten mit Bildnissen realer Wirklichkeit (z.B. Paris, Tiber).

In den Karten des Spätmittelalters wird aber zwischen Realität und scheinbarer Realität unterschieden, sagt Brigitte Englisch von der Universität Paderborn, die sich vor allem mit der Kartographie und Zeitrechnung des Mittelalters befasst.
Bibel und Fabeln als Quellen

Die Darstellung Afrikas auf der Ebstorfer Weltkarte
des Gervasius
"Die scheinbare Realität bezieht sich auf jene Erdregionen, die dem mittelalterlichen Menschen nicht zugänglich waren: das entfernte Asien, Afrika oder die unzugänglichen Regionen im Norden Europas", so Englisch:

"Weil diese Regionen nicht zugänglich sind, werden sie mit Illustrationen gefüllt, wobei diese im Wesentlichen auf das Bildungsschrifttum und die Bibel als Quellen rekurrieren. Das heißt, es gibt Abbildungen der Arche Noah, des Turms zu Babel, von Fabelwesen, des Vogel Phönix oder der Menschenfresser Gog und Magog".
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Autoritäten bestimmten Inhalt des Realen
Englisch weiter: "Von diesen Darstellungen kann man nicht verneinen, der mittelalterliche Mensch habe damit auch die Vorstellung einer möglichen Realität verbunden. Denn die Autoritäten, die Bildungshorizont und Mentalität der Menschen geprägt haben, haben sie als existent vorgeführt."
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Jerusalem im Mittelpunkt

Im Mittelpunkt der meist kreisförmigen Darstellung lag Jerusalem, wie etwa in der Hereford-Karte aus dem 13.ten Jahrhundert.
Fabelwesen tauchen etwa ab dem 11. Jahrhundert in Weltkarten auf.

Bei der Tagung in Krems wurde z.B. betont, Marco Polo habe im 13. Jahrhundert seine Reisebeschreibungen um Berichte von Phantasie-Geschöpfen ergänzen müssen, um "glaubwürdiger" zu sein.
->   Hereford-Karte
Irdisches Paradies
Mittelalterliche Karten von europäischen Autoren waren meist nach Osten ausgerichtet - Richtung Paradies. Das Paradies galt weder als real, noch als virtuell, da - so die Auffassung - das Alte Testament seine Existenz "belegte".
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Paradies mit Zwitterfunktion
Brigitte Englisch: "Auf der einen Seite ist der Garten Eden als irdischer Ort bestimmt und muss auch so verzeichnet werden. Der Zeichner der Hereford-Karte löst das Problem, in dem er das Paradies als Insel darstellt."

"Damit bringt er zum Ausdruck, dass es ein irdischer Ort ist, aber den jetzt lebenden Menschen verschlossen bleibt. Das Paradies hat in der mittelalterlichen Auffassung immer eine Art Zwitterfunktion: weder gehört es in das Diesseits noch in das vermeintlich Virtuelle", so die Historikerin.
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Geometrische Konstruktion der Karten
Was heute ungeordnet anmutet, basiert auf einer geometrischen Konstruktion: Um das zu beweisen, müssen Karten nachgemessen und nachgezeichnet werden.

Brigitte Englisch: "Das Problem ist, dass bis auf den Geographen von Ravenna, der von einer Einteilung der Erde in einen 24geteilten Strahlen-Kreis ausgeht, im Wesentlichen keine schriftlichen Quellen vorliegen."

Das habe dazu geführt, dass man die mittelalterlichen Weltkarten lange Zeit für unstrukturiert gehalten hat. Man könne aber sogar an Einstichen in einigen Karten sehen, dass man dieses Bauprinzip in das Pergament geprägt hat, bevor diese Karte gezeichnet worden sind.
Dreiteilung der Erde
Im Mittelalter wurde die Welt üblicherweise als Kreis dargestellt und in drei Teile geteilt: Europa, Afrika und Asien. Dennoch war die Kugelgestalt der Erde bekannt und ebenso die Idee, dass man den Osten Asiens erreicht, wenn man nach Westen segelt.
Kugelgestalt der Erde bekannt
Englisch: "Das Problem, warum man im Mittelalter sehr lange von einer Scheibengestalt der Erde ausgeht, ist darauf zurückzuführen, dass die Karten einen Kreis zeigen. Die Diskrepanz ist leicht zu erklären: man konnte nicht perspektivisch zeichnen und hatte auch keine Projektion, so wie sie es uns heute erlaubt, eine Kugel ins Zweidimensionale zu transformieren. Aber die meisten mittelalterlichen Schriftzeugnisse wie zum Beispiel Beda Venerabilis im achten Jahrhundert sprechen von der Erde als 'wie ein Spielball gerundet'."
->   Beda Venerabilis
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Detail der Ebstorfer Weltkarte
Die Ebstorfer Weltkarte
Die größte Erddarstellung aus dem Mittelalter ist die Ebstorfer Weltkarte. Sie ist rund, mit einem Durchmesser von dreieinhalb Metern, und farbig gestaltet. Die Ebstorfer Weltkarte entstand zwischen 1230 und 1250 undzeigt die Erdscheibe als Leib Christi. Im Zentrum der Karte befindet sich Jerusalem, geographische Einzelheiten sind mit Fantasievorstellungen vermischt. 1943 ist die sie im Staatsarchiv von Hannover verbrannt.
->   Ebstorfer Weltkarte
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"Zweck" mittelalterlicher Weltkarten
Heute sind laut Brigitte Englisch etwa 25 mittelalterliche Weltkarten erhalten. Die meisten davon Karten aus dem Apokalypsen-Kommentar des Beatus von Liébana. Als Reisebegleiter wären sie heute wie damals recht unpraktisch gewesen. Sie dienten der Verdeutlichung des "göttlichen Weltenplans" und der Schöpfung.

Barbara Daser, ö1-Dimensionen
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Mit realen und virtuellen Räumen in mittelalterlichen Weltkarten beschäftigte sich am 28.3.03 auch die Radiosendung "Dimensionen - die Welt der Wissenschaft im Überblick" auf Radio Österreich 1.
->   Österreich 1
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->   Beatus-Karten
->   Verzeichnis von mittelalterlichen Weltkarten
 
 
 
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01.01.2010