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Kulinarische Physik: Die Kunst des Eierkochens  
  Das Ei an sich beschäftigt seit jeher Feinschmecker und Wissenschaftler gleichermaßen. Während die einen an neuen kulinarischen Metamorphosen arbeiten, suchten schon mittelalterliche Alchimisten im Ei den Schlüssel zum Rätsel des Lebens. Die Synthese von physikalischen Erkenntnissen und kulinarischem Forscherdrang ist eine relativ neue Disziplin, die nun von Frankreich aus unter dem Titel "kulinarische Physik" auch nach Österreich gefunden hat. Rechtzeitig zu Beginn der Osterwoche hat der "Molekulargastronom" und Physiker Werner Gruber eine grundlegende Frage geklärt: Wie lange man ein Ei kochen muss, bis es perfekt weich, kernweich oder hart wird.  
Kochkunst und Naturwissenschaft sind enger verwandt, als man glauben möchte: Die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit den Vorgängen in der Natur. Es werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen Messgrößen (zum Beispiel der Backrohrtemperatur und der Bratdauer) hergestellt.

Zuerst werden Hypothesen aufgestellt: Wie verhält sich ein System unter bestimmten Umstände. Danach werden die Hypothesen durch ein Experiment überprüft. Wenn sich mehrere Hypothesen als richtig herausgestellt haben, werden sie zu einer Theorie zusammengefasst.
Kochen als naturwissenschaftliches Experiment
So gesehen handelt jeder Koch, jede Köchin als Wissenschaftler. Man stellt sich die Frage, ob denn dieses oder jenes Gewürz zu dieser oder jener Speise passt, oder ob man den Kuchen vielleicht nicht doch ein bisschen länger erhitzen hätte sollen.

Meist wird auch ein Experiment durchgeführt. Man gibt beim nächsten mal das besagte Gewürz hinzu und wird nun feststellen, ob die Speise besser oder schlechter schmeckt.

Vielen ist nicht klar, dass dies die Grundsätze der Naturwissenschaft sind: Eine Hypothese formulieren, sie mit einem Experiment überprüfen und die Ergebnisse zu einer Theorie zusammenfassen.
Das Dogma vom "weichen" drei Minuten Ei
Im Sinne wissenschaftlicher Forschung hat sich der Wiener Molkulargastronom und Physiker Werner Gruber der Frage angenommen , wie lange man tatsächlich ein Ei kochen muss, bis es perfekt weich wird. Kochbücher sind da eher dogmatisch: Drei Minuten gelten als Fixwert.

Wer die Hypothese überprüft, wird schnell feststellen, dass dies so nicht stimmt. Zumindest keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhält, weil es zu viele offene Variablen gibt, die einbezogen werden müssten. Das sind z. B. die Größe des Eis aber auch die Ausgangstemperaturen von Wasser und Ei.
Was geschieht beim Kochen?
Im wesentlichen geht es beim Kochen um die Denaturierung der im Ei enthaltenen Proteine durch die Zufuhr von Wärme. Das Eiweiß beginnt bei 61.5 Grad Celisius zu gerinnen - das Eiklar wird milchig, richtig hart wird es erst, wenn eine Temperatur von 84.5 Grad Celsius erreicht wird.

Dem Ei wird kontinuierlich Energie über das heiße Wasser auf der Eioberfläche zugeführt. Damit das Eiklar stockt, benötigt es Energie. Diese Energie wird als Erstarrungsenergie bezeichnet.

Also kann während der Gerinnung des Eiklars keine thermische Energie an das Eigelb weitergegeben werden. Das erstarrende Eiklar wirkt als thermischer Isolator für das Eigelb.

Erst wenn das Eiklar als Ganzes fest ist, kann die Wärme des Wassers über das Eiklar den Dotter erwärmen. Der Dotter wird bei rund 65 Grad Celsius stocken. Ergebnis: Das so genannte "harte" Ei.
Die "Weich-Ei-Formel"
Viele Eier mussten daran glauben, bis es Gruber gelungen ist, das Problem des perfekten Eis mathematisch zu fassen. Die Formel sollte die Kochzeit in Minuten angeben:
Materialkonstante, Durchmesser, Temperatur ...
 


0,0016 Materialkonstante des Eis - ein universeller Wert
d: Mittlerer Durchmesser des Eis
T start: Temperatur des Eis vor dem Kochvorgang
T innen: gewünschte Innentemperatur des Eis
plus 64 Grad beim "kernweichen" Frühstücksei
plus 84,5 Grad beim "harten" Ei
Mittelwert zwischen fünf und sechs Minuten
Wer sich nicht an höherer Mathematik versuchen will, dem rät Gruber, sich im Experiment einen Mittelwert zwischen fünf und sechs Minuten zu suchen.

Die Irrlehre vom berühmten Drei-Minuten-Ei kommt übriges aus einer Zeit, als die Eier in der Regel wesentlich kleiner waren als heute. Für Eier vom Handelsformat XL oder XXL wären die dreimal 60 Sekunden auf jeden Fall zu kurz.
Osterei - Schwefelfrei
Wird allerdings ein hartes Ei gewünscht, so sollte man eine Kochzeit (gemessen vom Siedepunkt des Wassers) von zehn Minuten nicht überschreiten. Bei längerer Kochzeit zerfallen bestimmte Proteine, die Schwefelatome enthalten.

Dabei wird ein übelriechendes Gas freigesetzt: Schwefelwasserstoff. Das gestockte Eiweiß wird verunreinigt, stinkt. Der Dotter bekommt einen unschönen grünen Rand. Essbar ist das ganze auch so - aber sicher kein besonderer Genuss. Was im Experiment schnell zubeweisen wäre.

Ein Beitrag von Gerhard Roth für die Sendung "Modern Times", am 11.04.03 um 22:35 Uhr in ORF2
->   Die Wissenschaft vom Eierkochen
Mehr zur Disziplin der kulinarischen Physik in science.ORF:at:
->   Die Weihnachtsgans aus dem Labor
 
 
 
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01.01.2010