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Jürgen Habermas: Irak-Krieg als Revolution der Weltordnung  
  Über den Irak-Krieg wird derzeit auch in den Feuilletons heiß debattiert. Zu Wort meldet sich nun der deutsche Philosoph Jürgen Habermas. Für ihn zeichnet sich mit dem Krieg eine Revolution der Weltordnung ab. Der hegemoniale Unilateralismus der USA ersetzt demnach die Moral des Völkerrechts. Das Ergebnis: "Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern".  
Auf den ersten Blick sei die Sache einfach. "Ein illegaler Krieg bleibt ein völkerrechtswidriger Akt, auch wenn er zu Erfolgen führt, die normativ wünschenswert sind", schreibt Habermas in der FAZ.
Gilt das Prinzip "Der Zweck heiligt die Mittel"?
Nur um gleich einige Frage nachzuschieben: "Aber ist das die ganze Geschichte? [...] Können gute Konsequenzen nicht doch eine nachträglich legitimierende Kraft entfalten?"

In der politischen Öffentlichkeit konstatiert der Philosoph verschiedene Reaktionen, die eine weitere Diskussion über die Berechtigung diese Krieges ablehnen. Doch dabei, so der Philosoph, greifen sie zu kurz.
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Was bedeutet der Denkmalsturz?
Der Artikel "Was bedeutet der Denkmalsturz? Verschließen wir nicht die Augen vor der Revolution der Weltordnung: Die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern" von Jürgen Habermas ist erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. April 2003, Seite 33 im Feuilleton.
->   Frankfurter Allgemeine Zeitung (Printausgabe nicht online)
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Eine Revolution der Weltordnung
Denn, so argumentiert Habermas, sie ignorieren die Alternative, "die die Neokonservativen in Washington zur völkerrechtlichen Domestizierung staatlicher Gewalt anbieten."

Der Moral des Völkerrechts werde eine revolutionäre Sicht entgegengesetzt: "Wenn das Völkerrechtsregime versagt, ist die politisch erfolgreichere hegemoniale Durchsetzung einer liberalen Weltordnung auch dann moralisch gerechtfertigt, wenn sie sich völkerrechtswidriger Mittel bedient."

Dahinter stehe die Vision einer amerikanischen Weltordnungspolitik. Zwar mit liberalen Zielen, meint Habermas, aber ohne die "zivilisierenden Fesseln", wie sie in der Verfassung der Vereinten Nationen - "aus guten Gründen" - gegeben sind.
Kernfunktion: Friedenssicherung
Tatsächlich ist die Weltorganisation noch nicht in der Lage, abweichende Mitgliedstaaten zu Demokratie und Rechtsstaat zu nötigen, gibt Habermas zu. Umso wichtiger sei deshalb die Kernfunktion der Friedenssicherung, die Durchsetzung des Verbotes von Angriffskriegen.
USA als ein "verheerendes Beispiel"
Die USA allerdings haben demnach mit dem aktuellen Irak-Krieg die Rolle einer Garantiemacht internationalen Rechts aufgegeben und - sehr viel fataler - sie geben mit ihrem völkerrechtswidrigen Vorgehen ein verheerendes Beispiel.

"Machen wir uns nichts vor: die normative Autorität Amerikas liegt in Trümmern", lautet denn auch das vernichtende Urteil des Philosophen.

Die Begründung: Keine der Bedingungen für einen rechtlich legitimierten Einsatz militärischer Gewalt sei erfüllt gewesen. Eine völkerrechtliche Legitimation wurde schlicht für überflüssig erachtet, wie Habermas ausführt.
Die Lehre des 20. Jahrhunderts
Was haben die Neokonservativen aus dem 20. Jahrhundert, dem "amerikanischen Jahrhundert" gelernt? "Kriege, die die Welt verbessern, brauchen keine weitere Rechtfertigung", so Habermas' Zusammenfassung.

"Um den Preis vernachlässigenswerter Kollateralschäden beseitigen sie unzweideutige Übel, die unter der Ägide einer kraftlosen Staatengemeinschaft fortbestehen würden. Der vom Sockel stürzende Saddam ist das Argument, das zur Rechtfertigung ausreicht."
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Zuspitzung zum "Krieg gegen den Terrorismus"
Diese Doktrin wurde lange vor dem Schock vom 11. September entwickelt, ist der Philosoph überzeugt. Doch die Zuspitzung zur Bushdoktrin, zum "Krieg gegen den Terrorismus" brachte das Argument der Selbstverteidigung ins Spiel.
Auch hier lässt sich für den präventiven Einsatz militärischer Mittel keine wirklich plausible Erklärung finden, so Habermas. Eine Frage, die auch die Völkerrechtler umtreibt - die Mehrheit kommt zu einem ähnlichen Schluss.
->   Mehr dazu: Irak-Krieg - Selbstverteidigung oder Aggression?
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Irakkrieg als Glied in der Kette einer Weltordnungspolitik
Der Irak-Krieg ist folglich nur ein Glied in einer Kette, analysiert Habermas. In der Kette einer Weltordnungspolitik, die sich rechtfertigt, indem sie die "vergebliche Menschenrechtspolitik" der Vereinten Nationen ersetzt.
Was spricht dagegen?
Uneinigkeit besteht letztlich in einem entscheidenden Punkt: "ob der völkerrechtliche Kontext der Rechtfertigung durch den der unilateralen Weltordnungspolitik eines sich selbst ermächtigenden Hegemons ersetzt werden kann und darf."
Die Welt: Zu komplex für ein Zentrum
Da wären zum einen die "empirischen Einwände" gegen die Durchführbarkeit der amerikanischen Visionen. Sie laufen laut Habermas darauf hinaus, "dass die Weltgesellschaft zu komplex geworden ist, um noch von einem Zentrum aus mit Mitteln einer auf militärische Gewalt gestützten Politik gesteuert zu werden."
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"Selbst wenn": Die unangenehmen Nebenwirkungen
Und selbst wenn der hegemoniale Unilateralismus, wie Habermas es benennt, machbar wäre, so hätte er doch äußerst unerwünschte Nebeneffekte: Politische Macht, die sich durch Militär, Geheimdienst und Polizei ausdrückt, gefährdet die eigene Mission, eine Welt nach liberalen Vorstellungen zu verbessern, meint Habermas - und verweist auf die schon heute in den USA zu beobachtende Unterminierung rechtsstaatlicher Grundlagen.
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Widerspruch der Bündnispartner
Vor allem aber stoße die angemaßte Treuhänderrolle der Supermacht auf den Widerspruch von Bündnispartnern, die aus guten normativen Gründen vom unilateralen Führungsanspruch nicht überzeugt seien.
Imperialer Anspruch kontra egalitärer Universalismus
Den USA konstatiert Habermas letztlich einen "imperialen Anspruch": "dass die politische Lebensform und Kultur einer bestimmten, und sei es der ältesten Demokratie für alle Gesellschaften exemplarisch ist."

Dagegen setzt der Philosoph das moderne Selbstverständnis eines "egalitären Universalismus": den Versuch einer Perspektive, die andere Sichtweisen anerkennt; die die eigene Sicht "an den Deutungsperspektiven der gleichberechtigten Anderen" entrelativiert.
Für eine "Multilaterale Willensbildung"
Universale "Werte" jedenfalls hängen laut Habermas "nicht in der Luft", sind keine Güter, die man global verteilen und exportieren kann. "Multilaterale Willensbildung" lautet daher sein Credo:

"Zur kosmopolitischen Fortentwicklung eines Völkerrechts, das den Stimmen aller Betroffenen gleichmäßig und gegenseitig Gehör verschafft, gibt es keine sinnvolle Alternative."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Informationen zu Jürgen Habermas in www.uni-magdeburg.de
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at und ORF.at:
->   Ulrich Körtner: Friedensethik in Zeiten des Krieges
->   Irak-Krieg: Enzensberger rechnet ab
->   Soziologe Hondrich: "Ordnung und Freiheit durch Gewalt"
 
 
 
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01.01.2010