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"Schwierige Erinnerungen": Eric Kandel in Wien  
  Eric Kandel, 1939 von den Nationalsozialisten als Jude aus Österreich vertrieben, zählt heute zu den weltweit führenden Neurowissenschaftlern. Als Initiator einer Tagung zum Thema "Österreich und der Nationalsozialismus" befindet sich der Forscher derzeit in Wien - und beschäftigt sich dabei auch mit seinen "schwierigen Erinnerungen". Kritik übt er etwa an der "Opferrolle" des einstigen Heimatlandes nach dem Zweiten Weltkrieg - und mahnt gleichzeitig zur Wachsamkeit vor "immanenten faschistischen Tendenzen in manchen Teilen der österreichischen Gesellschaft". Dennoch: Gegenüber Österreich hofft Kandel nun auf "wärmere Gefühle".  
Mit dem Symposion wird ein Wunsch des an der Columbia University in New York lehrenden Neurobiologen erfüllt, der anlässlich der Verleihung des Medizin-Nobelpreises 2000 an ihn gebeten hatte, auf Ehrungen und Feierlichkeiten in Österreich zu verzichten und sich stattdessen mit den Folgen des NS-Regimes für den Forschungs- und Bildungsbereich zu beschäftigen.
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Hintergrund: Tagung zu NS-Folgen für die Wissenschaft
Die Tagung "Österreich und der Nationalsozialismus - Die Folgen für die wissenschaftliche und humanistische Bildung" findet am Donnerstag und Freitag, organisiert vom Institut Wiener Kreis, an der Universität Wien statt.
Kandel selbst wird an dem Symposion ebenso teilnehmen wie etwa sein Nobelpreis-Kollege Walter Kohn (Nobelpreis für Chemie 1998), der renommierte Wissenschaftshistoriker Gerald Holton, die Historiker Fritz Stern und Peter Pulzer, der Physiker Harry Lustig und die Germanistin Ruth Klüger. In ihrem gemeinsamen Schicksal spiegelt sich das Tagungsthema wider: Sie alle wurden in Wien geboren (Stern in Breslau), mit ihren Familien von den Nationalsozialisten vertrieben und machten in den USA Karriere.
->   Mehr über die Veranstaltung
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"Alle waren schlecht, ohne Ausnahme"
Im Jahr 1989 - fast auf den Tag genau 50 Jahre nach seiner Flucht in die USA - hielt Kandel in seiner Geburtsstadt Wien einen wissenschaftlichen Vortrag und kam dabei auch auf seine gemischten Gefühle zu sprechen, nach Wien zurückzukehren.

Im Anschluss an den Vortrag wandte sich damals eine Dame an ihn und meinte: "Wissen Sie, es waren nicht alle schlecht."

Doch der Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 2000 ist da anderer Meinung: "Um ehrlich zu sein, es waren alle schlecht, ohne Ausnahme", sagte Kandel Dienstagabend im Gespräch mit der APA in Wien.
"Es gab niemanden, der den Juden half"
Das Charakteristische an der Antwort der Österreicher auf die Nazis war, dass es keine gab, "es gab niemand, der den Juden half".
Die Langzeitwirkung des "cultural exodus"
Schon lange habe es ihn gestört, dass Österreich bei der Aufarbeitung der NS-Zeit nicht so offen gewesen sei wie die Deutschen, so Kandel weiter.

"Ich dachte, ein solches Symposion würde junge Leute erreichen, die bereit sind, die Vergangenheit zu erforschen, und man könnte damit ein Umfeld schaffen, in dem so etwas nie wieder passieren kann." Denn es sei gesund für ein Land, sich mit seiner Geschichte auseinander zu setzen, und "das war mir viel wichtiger als jede Ehrung".
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Eric Kandel: Flüchtling, Neurobiologe, Nobelpreisträger
Kandel wuchs in Wien auf, sein aus Polen stammender Vater hatte ein Spielwarengeschäft in Wien-Währing. Beim Novemberpogrom 1938 wurde die Wohnung der Familie geplündert, im April 1939 gelang ihm und seinen Bruder die Flucht in die USA. In Harvard studierte er zeitgenössische europäische Geschichte und Literatur. Später begann Kandel eine Ausbildung zum Psychoanalytiker und schließlich als Psychiater.

Kandel wurde zum Aufdecker organischer Veränderungen im Rahmen von Signalübermittlung und Gedächtnisbildung. Er zeigte, dass einfache Verhaltensformen auf neuronalen Netzen beruhten, die aus bestimmten und identifizierbaren sowie untereinander fix verbundenen Neuronen aufgebaut sind. Das Kurzzeitgedächtnis von Organismen beruht demnach auf der Veränderung bereits vorhandener Proteine im Nervensystem, das Langzeitgedächtnis hingegen auf einer Neubildung von Proteinen. Für diese Entdeckung wurde er 2000 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet.
->   Autobiografie von Eric Kandel in www.nobel.se
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Nazis hinterließen riesiges Vakuum
Folgen der Flucht und Vertreibung jüdischer Wissenschaftler waren unter anderem die Zerstörung der Wiener Medizinischen Schule, der Wiener Psychoanalytischen Schule und der Wiener Schule für Wirtschaftswissenschaften. "Hinterlassen wurde ein riesiges Vakuum", sagte Kandel.

Ein Zustand mit lang andauernder Wirkung, die Kandel bei seinen Besuchen in Wien selbst noch in den achtziger Jahren bemerkte: "Ich war damals überrascht, wie schwach die Biologie in Österreich war." Erst mit dem Institut für Molekulare Pathologie (IMP) sei wieder eine international anerkannte Einrichtung geschaffen worden.
Langzeitwirkung des "cultural exodus"
Aber es dauere lange Zeit, bis sich Wissenschaften und Universitäten von der Vertreibung einer "fantastischen, viel versprechenden Generation" erholten, stimmte Kandel mit der These von Tagungsorganisator Friedrich Stadler, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Uni Wien, überein.

Denn Stadler ist überzeugt, dass der "cultural exodus" eine Langzeitwirkung hat und noch immer den heutigen Zustand der österreichischen Universitäten und Wissenschaft prägt.
Österreich nicht als Heimatland
Österreich ist für Kandel nicht sein Heimatland, auch wenn er sich angezogen fühlt - vor allem von der österreichischen Kultur, der Musiktradition.

"Ich habe mir aber nie gewünscht, in Wien zu leben", sagte Kandel, der dennoch hofft, dass er nach dem Symposion "wärmere Gefühle" gegenüber seinem Geburtsland entwickelt, auch wenn er "sehr schwierige Erinnerungen" habe.
Ein Zorn, der sich erst später entwickelte
Lange Zeit sei er sehr zornig auf Österreich gewesen - allerdings nicht sofort nach seiner Flucht. "Es war so eine Erleichterung, weg zu sein, und Amerika ist so ein wundervolles Land", erinnerte er sich. Er habe sich sehr frei gefühlt in den USA und sei extrem dankbar.

"Ich kam als jüdischer Flüchtling, ohne einen Penny in der Tasche, studierte an der Harvard University und gewann den Nobelpreis - ist das nicht wundervoll, das ist typisch Amerika."

Doch später, als er realisierte, dass man seine Familie aus der Wiener Wohnung vertrieben, seinen Vater verhaftet und Verwandte in Konzentrationslagern ermordet hatte, "da war ich zornig".
Die Opferrolle Österreichs
Angefacht wurde dieser Zorn dadurch, "dass sich Österreich diesen Tatsachen nicht stellte, sondern die Rolle des Opfers spielte".

All die Menschen, die am 15. März 1938 auf dem Heldenplatz Hitler mit offenen Armen willkommen hießen, "das waren keine Opfer". "Österreich hat jeden Grund, seine Geschichte zu öffnen und sich zu entschuldigen, wie es bereits beginnt, es zu tun."

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe ihn niemand gefragt, ob er vielleicht nach Österreich zurückkehren wolle. "Die Antwort wäre wahrscheinlich auch Nein gewesen, doch es hätte vielleicht eine engere Verbindung zu Österreich gegeben", so der Nobelpreisträger.
Rat an die Jungen: "Geht in die Wissenschaft"
Jungen Menschen, denen er seine Tagung widmet, gibt der Neurowissenschaftler zwei Ratschläge: "Geht in die Wissenschaft, es ist eine wundervolle Arbeit." Sie gebe einem die Chance, kreativ zu sein, und erzähle etwas über die Natur der Welt.

Und nicht ganz ohne Augenzwinkern verweist er auf die gute Lebensqualität eines Wissenschaftlers: "Man verbringt die Zeit mit Denken, mit interessanten Leuten zu sprechen, und eigentlich bekommt man bezahlt, um zu spielen."
"Immanente faschistische Tendenzen in Österreich"
Viel ernster ist sein politischer Rat: "Seid wachsam auf das politische Klima, speziell in Österreich, wo dieses Klima manchmal Angst einflößend ist."

Es gebe immanente faschistische Tendenzen in manchen Teilen der österreichischen Gesellschaft, die klein sein mögen, aber dennoch sehr einflussreich werden könnten. "Und deshalb müssen die jungen Leute wachsam sein."
->   Institut Wiener Kreis
->   Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien
->   Eric Kandels Homepage am Howard Hughes Medical Institute
->   Eric Kandels Homepage an der Columbia University
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Sendung "Dimensionen" zum Symposion
Mehr über das internationale Symposion erfahren Sie am kommenden Dienstag, 10.6.2003, in der Sendung "Dimensionen" - gestaltet von Reinhard Schlögl - um 19.05 Uhr in Radio Österreich 1.
->   Radio Österreich 1
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01.01.2010