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"Schizophrenes" Wasser: Anomalie erstmals erklärt  
  Warum Wasser nicht im gefrorenen Zustand, sondern bei vier Grad Celsius seine höchste Dichte aufweist, hat schon Generationen von Physikern Kopfzerbrechen bereitet. Italienische Theoretiker haben nun die Erklärung für diesen eigenartigen Sachverhalt gefunden: Ihrem Modell zufolge hat Wasser gewissermaßen eine gespaltene Persönlichkeit. Denn was wir als flüssiges Wasser kennen, kommt offensichtlich in zwei unterschiedlichen Zustandsformen vor.  
Wie Francesco Sciortino und seine Kollegen von der La Sapienza Universita di Roma berichten, kann mit ihren Modellrechnungen die berüchtigte Anomalie des Wassers erstmals präzise erklärt werden.
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Der Artikel "Physics of the liquid-liquid critical point" von Francesco Sciortino, Emilia La Nave und Piero Tartaglia erscheint in der Zeitschrift "Physical Review Letters" (Band 91, 155701 Ausgabe vom 10 October 2003). Die Studie ist im Volltext auch am Preprintserver arXiv.org zugänglich.
->   Zum Abstract bei den Physical Review Letters
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Molekül des Lebens
Wasser ist mehrerer Hinsicht ein besonderer Stoff. Zum einen findet so gut wie jede biochemische Reaktion in wässriger Lösung statt.

Doch Wasser dient der lebenden Zelle nicht nur als Lösungsmittel, sondern hat seine Finger auch bei der Aufrechterhaltung von Elektrolythaushalt, Stoffwechsel, Wachstum und Reproduktion u.v.m. im Spiel. Daher kann man feststellen: Ohne Wasser wäre die Existenz des Lebens - zumindest in der uns bekannten Form - unmöglich.
Wasser tanzt - physikalisch - aus der Reihe
Zum anderen steht Wasser auch seit Jahrzehnten im Brennpunkt physikalischer Forschungsinteressen. Denn das scheinbar so einfache Molekül zeigt eine Reihe von atypischen Verhaltensweisen, die mit den klassischen Beschreibungsmethoden der Physik nur schwer in den Griff zu bekommen sind.
Dichteanomalie lässt Eis auf Wasser schwimmen
Die berühmteste dieser ungewöhnlichen Eigenschaften ist vermutlich die so genannte Dichteanomalie: Während die meisten Substanzen mit abnehmender Temperatur immer dichter werden, ist das bei H2O nicht der Fall.

Denn Wasser weist bekanntlich sein Dichtemaximum bei knapp 4 Grad Celsius auf. Kühlt man es noch weiter ab, dann dehnt es sich jedoch wieder aus. Das ist der Grund dafür, dass Eis auf der Wasseroberfläche schwimmt - ein aus physikalischer Sicht durchaus ungewöhnlicher Vorgang.
->   Mehr zur Dichteanomalie (physik-lexikon.de)
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38 Gründe, warum Wasser als Sonderling gilt
Es gibt noch eine Reihe anderer Eigenschaften, die das Wasser als ganz besonderen Stoff auszeichnen. So etwa dessen hohe Oberflächenspannung oder die hohe Temperatur von Schmelz- und Kochpunkt. Der Chemiker Martin Chaplin von der London South Bank University nennt auf seiner Homepage stattliche 38 "Anomalien", die H2O als physikalischen Sonderling in der Welt der Moleküle ausweisen.
->   Explanation of the anomalies of water (lsbu.ac.uk)
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Zwei Zustandsformen: Wasser ist nicht gleich Wasser
An der Erklärung der Dichteanomalie beißen sich jedenfalls schon Generationen von Physikern die Zähne aus. Im Jahr 1992 publizierte eine Arbeitsgruppe um den Guru in Sachen Phasenübergänge, H. Eugene Stanley, einen vielversprechenden Erklärungsansatz.

Dieser Hypothese zufolge existiert das so genannte unterkühlte Wasser nicht wie bisher gedacht in einer - sondern in zwei verschiedenen Zustandsformen: Einem mit hoher ("high density phase", HDP) und einem mit etwas geringerer Dichte ("low density phase", LDP).

"Unterkühlt" weist in diesem Zusammenhang auf flüssiges Wasser hin, das unter seinen Gefrierpunkt abgekühlt wurde, jedoch in Ermangelung aktiver Eiskeime nicht gefriert.
->   Mehr zu unterkühltem Wasser (top-wetter.de)
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Die Studie "Phase behaviour of metastable water Peter H. Poole, Francesco Sciortino, Ulrich Essmann und H. Eugene Stanley erschien in der Zeitschrift "Nature" (Band 360. S. 324).
->   Zum Originalartikel
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Kritischer Punkt bei unterkühltem Wasser
Die von Stanley und seinen Mitarbeitern postulierte Hypothese von zwei Zustandsformen wurde zunächst bei der erwähnten Unterkühlung angewandt:

Die amerikanischen Physiker fanden anhand einer Computersimulation Hinweise, dass bei hohem Druck und sehr tiefen Temperaturen ein so genannter kritischer Punkt existiert.

An diesem Punkt, so Stanley und Mitarbeiter, sollte unterkühltes Wasser abrupt vom HDP- in den LDP-Zustand wechseln ("liquid liquid critical point").
"Schizophrenie"-These verallgemeinert
Francesco Sciortino und seine Kollegen von der La Sapienza Universita di Roma haben diese Betrachtungsweise nun entscheidend verallgemeinert.

Sie untersuchten die statistischen Eigenschaften einer Landschaft ("potential energy landscape"), die die potenzielle Energie der verschiedenen Molekülanordnungen abbildet. In dieser Landschaft sind also die Berge Zustände mit hoher, die Täler Zustände mit geringer Energie.

Nach den Prinzipien der Wärmelehre tendiert jedes abgeschlossene System dazu, sich in den Tälern fortzubewegen und meidet folglich jeden "Bergaufmarsch".
Theorie der Phasenübergänge maßgeblich verbessert
Sciortino und Mitarbeiter konnten ganz allgemein zeigen, dass jeder Stoff, der eine Dichteanomalie aufweist, zwei verschiedene Existenzformen in ein und dem selben Aggregatszustand entwickelt.

Dies gilt für Wasser, aber auch jeden anderen Stoff, der sein Dichtemaximum im flüssigen Bereich ansiedelt. H. Eugene Stanley zeigt sich von der theoretischen Neubearbeitung seiner Idee jedenfalls begeistert: "Das ist wirklich herausragend: Sie fanden heraus, unter welchen Bedingungen so ein kritischer Punkt auftritt."

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Homepage von H. Eugene Stanley
->   Homepage von Francesco Sciortino
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01.01.2010