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Evolutionstheorie vor Darwin  
  Dass es bereits vor Darwin eine Reihe von Denkern gegeben hat, die das Evolutionsprinzip antizipiert haben, ist relativ bekannt. Wie nah sie der heute akzeptierten Sichtweise gekommen sind, zeigt ein Artikel eines walisischen Wissenschaftlers: So hat etwa der Geologe James Hutton bereits 1794 die Grundzüge der Selektion in einem Buch klar formuliert. Er brachte jedoch das Kunststück zuwege, trotzdem die Evolution als "romantische Idee" abzulehnen.  
Wie Paul N. Pearson von der Cardiff University berichtet, lag in Edinburgh zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Idee der Abstammungslehre gleichsam in der Luft. Denn in dieser Stadt lebte nicht nur Hutton: Dort studierten - neben Darwin selbst - auch zwei weitere Naturforscher, die damals ganz unabhängig Theorien zum Artenwandel vorgelegt hatten.
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Der Artikel "In retrospect: An Investigation of the Principles of Knowledge" von Paul N. Pearson erschien im Fachmagazin "Nature" (Band 425, S.665, Ausgabe vom 16.10.03).
->   Zum Originalartikel (kostenpflichtig)
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Wer war der Vater des Evolutionsgedankens?

Charles Darwin
Charles Darwin gilt gemeinhin als Urvater des Evolutionsgedankens und - als Autor des epochemachenden Origin of Species - vor allem als Begründer der Selektionslehre.

Die Begriffe "Evolution" und "Selektion" hängen zwar stark zusammen, trotzdem ist es äußerst sinnvoll, sie ihrem Inhalt nach klar zu trennen. Denn ein Blick in die Biologiegeschichte lehrt, dass es nicht wenige Vorgänger von Charles Darwin gab, die das eine oder aber das andere Prinzip vorwegnahmen.
Selbst Anaximandros vermutete schon ...

Anaximandros
So sind z.B. Textfragmente von Anaximandros aus Milet überliefert, in denen bereits die Veränderlichkeit der Arten festgestellt wird.

An einer Stelle heißt es bei dem antiken Philosophen etwa: "... der Mensch sei ursprünglich einem anderen Lebewesen, d.h. dem Fische ähnlich gewesen". Nimmt man dieses mehr als 2.500 Jahre alte Zitat wörtlich, so kann man es als Aussage lesen, die von den biologischen Tatsachen so weit nicht entfernt ist.

Denn an der Basis des Stammbaums der Wirbeltiere stehen in der Tat die Vorläufer der heute lebenden Kieferlosen, Knochen- und Knorpelfische: Die Existenz des Menschen baut also in gewisser Hinsicht auf die "Erfindung" fischartiger Lebwesen.
Transformation: Arten sind veränderlich
In allgemeiner Lesart beinhaltet dieser Satz zumindest eine unmissverständliche Formulierung des so genannten Transformationsprinzips:

Wenn der Mensch früher anders gestaltet war, dann bedeutet das, dass er sich im Lauf der Zeit verändern konnte. Generell gesprochen: Arten sind keine naturgegeben Konstanten, sondern befinden sich vielmehr im Fluss zeitlicher Umgestaltung.
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Frühe Vorläufer - von Lukrez bis Lamarck
Sucht man nach weiteren frühen Formulierungen dieses - heute so selbstverständlichen - Prinzips, wird man rasch fündig. Ähnliche Textstellen kennt man z.B. auch vom römischen Philosophen Lucretius Carus, von Charles' Großvater Erasmus Darwin, oder etwa von den französischen Naturforschern Étienne Geoffroy St. Hilaire und Jean Baptiste de Lamarck. Letzterer bot sogar eine kausale Theorie für seine Behauptung an. Allerdings die falsche - sie gilt heute als widerlegt.
->   Mehr dazu (aboutdarwin.com)
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James Hutton nahm Selektionsprinzip vorweg

James Hutton
Daraus könnte man schließen: Darwin war zwar nicht der erste, der die Nicht-Konstanz der Arten annahm, er war aber immerhin der erste, der einen Mechanismus für die Evolution - nämlich die Selektionstheorie - anbot.

Nach einem soeben erschienenen Artikel von Paul N. Pearson in der Zeitschrift "Nature" ist die Sachlage jedoch noch komplizierter. Bereits im Jahr 1794 (also 65 Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Opus Magnus) hat der britische Geologe James Hutton offenbar das Wechselspiel von Variation und Selektion vorweggenommen.

In seinem nun neu aufgelegten, 2.138 Seiten umfassenden Werk An Investigation of the Priniciples of Knowledge findet sich ein ganzes Kapitel, das diesem Thema gewidmet ist.
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Hutton im Wortlaut
Darin heißt es unter anderem: "Wenn ein Körper nicht an die Umstände seiner Lebenserhaltung und Vermehrung angepasst ist, dann werden - unter Berücksichtigung der unbegrenzten Variationen von Individuen dieser Art - jene, die am meisten von der bestangepassten Konstitution abweichen, am wahrscheinlichsten zugrunde gehen. Und jene, welche die beste Konstitution aufweisen, werden weiter bestehen und die Individuen ihrer Rasse vermehren."
->   Das Buch bei Chicago University Press
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Knapp verfehlt - ist auch vorbei
Wie Pearson weiter ausführt, war Hutton kein Lehnstuhltheoretiker, sondern kam zu diesem Schluss aufgrund von Züchtungsexperimenten mit Tieren und Pflanzen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Hutton diese Erkenntnis nur für kurzfristige Entwicklungen reservierte und nicht auf größere Zeitmaßstäbe anwenden konnte bzw. wollte:

Denn Hutton lehnte die Idee der Evolution überraschender Weise als "romantische Phantasie" strikt ab. Das heißt, der britische Pionier hatte die Lösung des wichtigsten biologischen Problems dieser Zeit bereits in Händen - und hätte den Sack gewissermaßen nur zumachen müssen. Allein, er tat es nicht.
Zwei weitere Vorläufer: Matthew und Wells
Darwin hingegen hatte dieses Problem nicht. Er führte bekanntlich die entscheidenden Elemente von Transformation und Selektion in seinem Hauptwerk souverän zusammen.

Wie Pearson in seinem Artikel weiter ausführt, gab es zwei weitere Autoren, denen dieses Bravourstück im frühen 19. Jahrhundert gelang: Patrick Matthew und William Wells hatten bereits 1831 bzw. 1818 ähnliche, wenn auch nicht so detailliert formulierte Theorien abgeliefert.
Die Selektionstheorie stammt aus Edinburgh
Aus Darwins Tagebuchaufzeichnungen weiß man, dass er zu seiner Theorie jedoch unabhängig von den beiden britischen Forschern gelangt war.

Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem Folgendes: Alle drei - Darwin, Matthew und Wells - wurden in Edinburgh ausgebildet. Jene Stadt, in der auch Hutton lebte.

Dies lässt die Vermutung zu, dass damals die schottische Stadt mit ihren wissenschaftlichen Clubs und Zirkeln ein kulturelles Substrat bildete, das fast zwangsläufig die Selektionstheorie der Evolution hervorbrachte.
Eine unbewusste Anleihe?
Wie Pearson spekuliert, "scheint es möglich, dass diese Idee als halbvergessenes Konzept aus seinen [Darwins, Anm.] Studententagen wieder in seinem Geist auftauchte, als er sich auf seiner Reise mit der Beagle um eine Erklärung der Beobachtungen über Arten und ihre Varianten abmühte."
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Kryptomnesien
Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton hat für solche - in der Wissenschaft nicht seltenen - unbewussten Anleihen einen eigenen Begriff geprägt: Er sprach in diesem Zusammenhang von "Kryptomnesien." So ist etwa von Sigmund Freud bekannt, dass er solche verborgene Gedächtnisleistungen auch in seinen eigenen Schriften entdeckte.
->   Die wichtigsten Papers von Robert K. Merton
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Darwins Anerkennung ist unbestritten
Wie dem auch sei, Darwins wissenschaftliche Originalität bliebe davon ohnehin unberührt: Ihm "gebührt die Anerkennung für die Anwendung des Transformationsprinzips und die Zusammenstellung der Fakten, die letztlich die wissenschaftliche Welt überzeugte", so Pearson.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Cardiff University
->   Warum Darwin kein Darwinist war - und Mendel kein Mendelist (11.8.03)
->   Stabheuschrecken brechen Evolutionsregel (16.1.03)
->   Charles Darwins Vorgänger war ein Gärtner (25.1.02)
 
 
 
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01.01.2010