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"Milch-Gene": Koevolution bei Mensch und Kuh  
  Der Mensch ist von der Natur nicht als "Milchverwerter" angelegt. Vor allem in Mittel- und Nordeuropa kann er aber - dank einer Genmutation - Joghurt, Käse und Co ohne Nebenwirkungen verzehren. Ein internationales Forscherteam hat sich nun das Erbgut von europäischen Kühen angesehen - und auch hier eine besonders hohe Diversität bei den Schlüsselgenen für die Milchproduktion entdeckt. Der nahe liegende Schluss: eine parallele Evolution der "Milch-Gene" bei Mensch und Tier.  
Die Forscher um Albano Beja-Pereira von der Universite Joseph Fourier in Grenoble untersuchten die geografische Verteilung von Kühen mit besonders variantenreichen Genen, die für die sechs wichtigsten Milchproteine kodieren.
Die Übereinstimmung mit der Verbreitung einer Genvariante, die vor allem die Bewohner Nord- und Mitteleuropas zu Milchtrinkern macht, ist frappierend. Nach Ansicht der Forscher ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Milchviehwirtschaft eine Art parallelen Evolutionsprozess eingeleitet hat, der sich heute in beider Erbgut ablesen lässt.
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Der Artikel "Gene-culture coevolution between cattle milk protein genes and human lactase genes" wurde als Online-Publikation von "Nature Genetics" veröffentlicht (23. November 2003, doi:10.1038/ng1263) und erscheint in der kommenden Printausgabe des Fachjournals.
->   Abstrakt des Artikels in www.nature.com
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Milchzucker-Unverträglichkeit: Ein häufiges Übel
Ein Großteil aller erwachsenen Menschen weltweit weist - in mehr oder minder ausgeprägter Form - eine so genannte Laktose-Intoleranz auf. Betroffene können den in Milch und daraus hergestellten Produkten enthaltenen Milchzucker nicht vollständig verdauen und leiden daher unter Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall und Übelkeit.

Manche Menschen aber behalten die Fähigkeit zur Milchverdauung auch nach der Säuglings- und Kleinkindphase bei. Verantwortlich dafür ist eine simple genetische Mutation. Und diese findet sich vor allem im nördlichen Mitteleuropa sowie im südlichen Skandinavien, nur fünf bis zehn Prozent aller Menschen leiden hier unter einer Milchzucker-Intoleranz.

Anders dagegen der "Rest der Welt": Im südöstlichen Asien weisen beispielsweise an die 100 Prozent der Bevölkerung eine Laktose-Unverträglichkeit auf. Ähnlich die Situation in Afrika.
->   Informationen zu Laktose-Intoleranz in www.medicine-worldwide.de
Ein Verweis in die Vergangenheit
Die Ursache für diesen Umstand liegt weit in der Vergangenheit: Im Rahmen der so genannten "Neolithischen Revolution", dem Übergang von der mittleren zur Jungsteinzeit, wurden die Menschen in Europa vor mehreren tausend Jahren allmählich sesshaft und ging zu Ackerbau und Viehzucht über.
->   Mehr Informationen dazu in www.uni-leipzig.de
Auch Milchprodukte auf dem Speiseplan
Dabei änderte sich auch der Speiseplan deutlich, in Mittel- und Nordeuropa standen offensichtlich Milch und Milchprodukte bald ständig auf dem Speiseplan - und begünstigten so die Verbreitung einer Mutation, die es dem Großteil der Erwachsenen noch heute erlaubt, beispielsweise Milch und Käse in größeren Mengen und ohne Beschwerden zu verzehren.
Auch bei den Kühen zeigen sich die Folgen
Doch welche Folgen hatte die Milchviehhaltung für die Tiere? Dieser Frage haben sich nun Albano Beja-Pereira und Kollegen angenommen. Sie untersuchten bei rund 20.000 Kühen aus 70 unterschiedlichen Rassen jene Gene, die für sechs Schlüsselproteine der Milchproduktion kodieren.

Das Ergebnis der Analyse: Diese tierischen "Milch-Gene" fanden sich genau dort in besonders vielen Varianten, wo auch die höchste Zahl an Laktose-toleranten Menschen lebt. Und: Jene Regionen gelten auch als Ursprungsort der neolithischen Milchviehwirtschaft, wie frühere Studien herausfanden.
Starke geografische Übereinstimmung
 
Bild: Nature Genetics

Die Karte links zeigt die Konzentration der "Milchgen"-Diversität bei den Kühen (je dunkler die Farbe, desto höher die genetische Diversität), rechts im Bild die Verteilung der Genvariante für die Laktose-Toleranz (je dunkler die Farbe, desto häufiger die Genvariante) sowie die Region der jungsteinzeitlichen Milchviehwirtschaft (schwarze Linie).
Kulturell-genetische Koevolution ...
Diese starke geografische Übereinstimmung ist nach Ansicht der Forscher ein Hinweis darauf, dass seit der Jungsteinzeit eine parallele Entwicklung zwischen den domestizierten Rindern und der menschlichen Kultur stattgefunden hat - angetrieben durch die Vorteile des Milchverzehrs für den Menschen.

Die Milchviehhaltung hat demnach zu einer besonders großen genetischen Vielfalt bei den Tieren geführt, bei den Menschen wiederum sorgte sie im Laufe der Evolution für die passende Ausstattung des Erbgutes.

"Dies könnte ein seltenes Beispiel von kulturell-genetischer Koevolution zwischen dem Menschen und einer andere Art darstellen", schreiben die Forscher in "Nature Genetics".
... nicht in Verbindung mit einer Krankheit
Beispiele dafür gebe es zwar bereits - etwa für menschliche Gene und das Erbgut des Malaria-Parasiten Plasmodium - doch ihre Studie zeige diesen Zusammenhang erstmals nicht in Verbindung mit einer Krankheit.

Die Studie spiegele das das Ausmaß, in dem die Domestizierung die menschlichen Gesellschaften und das Genom von Mensch und Vieh geformt habe, so die Wissenschaftler. Die Rinder aber sehen sie als potenziell wertvolle genetische Ressource der Landwirtschaft.
->   Universite Joseph Fourier
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01.01.2010