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20 Jahre "Gedächtnis" in den Kulturwissenschaften  
  Das "Aufsprengen" der herkömmlichen Vorstellungen von Geschichte - unter diesem Vorzeichen wurde das kulturwissenschaftliche Programm des Gedächtnisses in den 80er Jahren populär, "Erinnerung" zum Kampfbegriff für wissenschaftliche Innovation und gesellschaftspolitische Kritik. Der Frage, was davon knapp 20 Jahre später übrig geblieben ist, geht eine Tagung am IFK in Wien nach.  
Schon zuvor stellt die Tagungsteilnehmerin und Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin ihren sehr österreichischen Beitrag vor: den Zusammenhang von Trauma, Gedächtnis und Vergangenheitspolitik.
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Die Tagung "Gedächtnis zwischen Erfahrung und Repräsentation" findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien am 12. und 13. Dezember statt.
->   Mehr über die Tagung (Programm und Abstracts)
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Trauma, Gedächtnis, Vergangenheitspolitik

Von Elisabeth Brainin

Als Psychoanalytikerin bin ich seit vielen Jahren mit Trauma und Traumafolgen beschäftigt. Psychoanalytiker gehen von allgemeinen Prämissen aus, die nicht nur für ein spezielles Kollektiv gelten; es ist der psychische Apparat und seine Funktionsweise, auf dem unsere Überlegungen basieren. Das Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung entspricht dem Verhältnis von kognitiver Leistung und affektiven Besetzungen.
Keine Erinnerung ohne Affekt
Erinnerungen ohne Affekt gibt es nicht, Affekte färben Erinnerungen und sind ganz entscheidend mit daran beteiligt, woran wir uns im gegebenen Moment erinnern. Dies beschäftigt seit ihrer Entstehung die Psychoanalyse und eine andere Forschungsrichtung, die Neuropsychologie, die sich ebenso der Erforschung von Gedächtnis und Erinnerung zuwendet.
Beispiel: Freuds Neurosentheorie
Sigmund Freud beschrieb das Trauma als ein Ereignis, das durch ein Anfluten von Reizen die Verarbeitungsmöglichkeiten des Individuums übersteigt. Die Intensität des Traumas ruft eine dauerhafte pathogene Wirkung hervor, die die psychische Organisation verändert. In Freuds Neurosentheorie wird die Entstehung der Neurose an frühe traumatische Kindheitserfahrungen geknüpft.

Damit ist aber auch ein innerseelischer, unbewusster Konflikt verbunden, wie er sich in der Hysterie und anderen Psychoneurosen darstellt. Traumatische Neurosen, wie die Kriegsneurosen des Ersten Weltkrieges, hindern das Individuum daran, die traumatische Erfahrung in die Persönlichkeit zu integrieren. Das Trauma wirkt wie ein Fremdkörper im Seelenleben weiter. Dieser Denkansatz hat in heutigen psychoanalytischen Theorien über Traumafolgen weiterhin Gültigkeit.
Deckerinnerungen und was darunter liegt
Die bewussten Erinnerungen von Menschen an ihre leidvolle Kindheit dienen unter anderem auch als "Deckerinnerungen" oder "screen memories", die sich durch ganz besondere visuelle Klarheit von anderen Erinnerungen unterscheiden. Wie der Begriff bereits andeutet, dienen diese dazu, konflikthafte Ereignisse zu verdecken, sie im Unbewussten verborgen zu halten.

In einer Psychoanalyse kann es gelingen, die dahinter liegenden Erinnerungen mit Hilfe von Träumen und der Technik der freien Assoziation bewusst zu machen. Ganz ähnlich haben wir uns dies für manche traumatischen Erlebnisse vorzustellen. Die Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis kann ebenso wie eine Deckerinnerung wirken.
"Unlustvermeidung": Innerseelisch und gesellschaftlich
Bei gesellschaftlichen Prozessen handelt es sich hingegen nicht um unbewusste Vorgänge. Dabei werden allerdings Kräfte wirksam, die häufig zugleich seelischen Mechanismen, die ubiquitär sind, entgegen kommen. Ein Prinzip unseres Seelenlebens, die "Aufwandsersparnis", d.h. so wenig seelische Energie wie nur möglich aufzuwenden, wird auch in gesellschaftlichen Prozessen merkbar.

Innerseelische Konflikte sollen vermieden werden, was wiederum dem Prinzip der "Unlustvermeidung" entgegen kommt. Das bedeutet aber, dass politische Strömungen dann breiten Anklang finden, wenn sie diesen beiden Prinzipien entgegen kommen. Die Erinnerung an konflikthafte Vorgänge soll nicht ans Tageslicht kommen, stattdessen wird Erinnerung und Geschichte gesellschaftlich konstruiert.
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Kollektive Deckerinnerung: "Saubere Wehrmacht"
In diesem Sinne haben wir die österreichische Vergangenheitspolitik der letzten fünfzig Jahre zu verstehen. Österreich wurde zu einem Opfer des Nationalsozialismus gemacht, die eigene Verantwortung an begangenen Verbrechen geleugnet. So wurde etwa die Erinnerung an den Kriegseinsatz der Deutschen Wehrmacht zum Mythos der "sauberen" Wehrmacht umgedeutet, wodurch diese entpolitisiert und entkriminalisiert werden konnte. Dies kann als Beispiel dafür herangezogen werden, dass - entsprechend dem Modell der Deckerinnerung - auch im gesellschaftlich-öffentlichen Sprachgebrauch "Deckbegriffe" geschaffen werden, die der bewussten Verschleierung, Beschönigung und Konfliktbereinigung dienen.
->   Die Wehrmacht in den österreichischen Medien (8.4.02)
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Das Konzept der Nachträglichkeit
Als Psychoanalytikerin wähle ich einen Zugang, der vom Individuum ausgeht, und der mir doch die Sicht auf kollektive Erinnerungen gestattet. Die vom Affekt gefärbte Wahrnehmung wird über Gedächtnis- und affektive Strukturen zu Erinnerung. Konstruktionen der Vergangenheit entstehen in dem Augenblick, in dem das Kollektiv auf seine Vergangenheit zurückblickt.

In der Psychoanalyse haben wir es mit ähnlichen Vorgängen zu tun, wenn von "Nachträglichkeit" die Rede ist. Das Konzept der Nachträglichkeit wird besonders in der Anwendung auf traumatische Ereignisse bedeutsam, wo es um Erinnerungen und die Entstehung von Deckerinnerungen geht. Erfahrungen und Erinnerungsspuren werden nachträglich umgearbeitet, erhalten gleichzeitig einen neuen Sinn und somit eine neue psychische Wirksamkeit.
Gedächtnis: Eine organisierte Amnesie
Das Gedächtnis sei eine organisierte Amnesie, meint Julien Rouart, ein französischer Psychoanalytiker (la memoire est une amnesie organisee). Und das ist genau die Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Vorgängen, neuropsychologischen Prozessen und psychischen Ereignissen. Die "organisierte Amnesie" ist eine wesentliche Voraussetzung unseres Gedächtnisses.
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Über die Autorin
Elisabeth Brainin ist Psychoanalytikerin, Lehr- und Kinderanalytikerin sowie Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV/IPA). Bis 2002 ärztliche Leiterin der Institute für Erziehungshilfe in Wien, seit 2002 in freier Praxis. Mitarbeit im interdisziplinären Forschungsprojekt "Jugendfürsorge im Nationalsozialismus".
->   Wiener Psychoanalytische Vereinigung
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->   IFK
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Buch-Tipp:
Elisabeth Brainin, Gerald Kral (Hg.): Spielerische Lösungen. Das Kind als Mittelpunkt psychotherapeutischen Denkens, Picus Verlag 2003
->   Mehr zu dem Buch (Picus Verlag)
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01.01.2010