Host-Info
Franz Seifert
Freier Sozialwissenschaftler in Wien
 
ORF ON Science :  Franz Seifert :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Die gefährdeten Intellektuellen  
  Ein Buch über eine neue Form sozialer Ausgrenzung hat jüngst in Frankreich und Italien Wellen geschlagen. Es zeichnet das Porträt einer Generation kulturell und kritisch engagierter Hochschulabsolventen, die sich außerhalb des Universitätsbetriebs, bar langfristiger Perspektiven und in unsicheren Lebenslagen wiederfinden.  
"Intellektuelle zwischen Autonomie und Ausbeutung"
So lautete der Titel der Diskussionsveranstaltung der "IG externe LektorInnen und freie WissenschafterInnen", bei der die Autorin Anne Rambach die wesentlichen Ergebnisse ihrer Arbeit ("Les Intellos precaires") resümierte:

Hochschulabsolventen, die einerseits keinen der raren Posten im Universitäts- und Forschungsbetrieb ergattern, andererseits aber doch auf die eine oder andere Art "intellektuell" sein wollen, haben ein schweres Leben.

Zu ihrem Überleben sind sie auf Projekte, Stipendien und externe Lehraufträge angewiesen und damit auf jene, die den Zugang zu dieser schwankenden Existenzgrundlage kontrollieren: zu den fix Angestellten, den "Kernarbeitskräften", den Dozenten und Professoren. Ein beklemmender weil ausgelieferter Zustand.
Und dann doch wieder eine Lebensweise mit ihrem eigenen, besonderen Privileg - dem Privileg der Freiheit.
Die Freiheit ...
Denn gerade ihre Nichtverpflichtung auf Lehrbetrieb und Wissensfabrikation erlaubt "Intellektuellen", das zu tun, worin man ihre Aufgabe sehen mag: eigenes Denken, Beobachten, eigene Kritik und Originalität zu entwickeln.

Neben diesem (zugegeben etwas romantischen) Freiheitserlös bleibt der von vielen Befragten angegebene Vorteil, in ihren zwangsläufig abwechslungsreichen "Patchworkkarrieren" vielfältige Kompetenzen erwerben, vor allem aber dem "psychisch deformierenden" Normalbetrieb der Wissenschaftsinstitutionen, ihren neurotisierenden Ränkespielen und Paternalismen entrinnen zu können.
... und ihr Preis
Doch ist der Preis der Freiheit hoch. Er schlägt in kläglichen Einkommen (30 - 50 Prozent dessen, was Angestellte für die gleiche Arbeit erhalten) zu Buche, in chronischer Arbeitsüberlastung, in ausbleibender Anerkennung bzw. andauerndem Ignoriertwerden, in der Unmöglichkeit, einen eigenen Lebensentwurf zu formulieren.

Bedrückend ist letzteres vor allem für Frauen, die aufgrund ihrer unsicheren ökonomischen Lage und durch fortgesetztes Aufschiebenmüssen kinderlos bleiben.
Scham und Schweigen
Dass die Misere unsichtbar bleibt, hat mehrere Gründe. Zum einen müssen die "gefährdeten Intellektuellen" eine ähnlich "minderwertige" Statuszuschreibung wie "die Arbeitslosen" fürchten. (Und das, obwohl es sich bei ihnen zumeist um hochproduktive, geradezu manische Arbeiter handelt.)

Dazu kommt ihre Unidentifizierbarkeit und Nichtzählbarkeit. Besten-falls Dunkelziffern werden genannt. So schätzt Rambach die Zahl der "intellectuels précaires" in Frankreich auf etwa 200.000, in Österreich ist von 10.000 bis 30.000 auszugehen.

Der Hauptgrund für ihre offizielle Nichtexistenz dürfte allerdings in ihrem systematischen Totgeschwiegenwerden liegen. Denn die Institutionen, zu denen "die Externen" in einem ambivalenten Verhältnis von Freiheit und Ausbeutung stehen, blenden diese Gruppe aus. Womit lassen sich strukturelle Ungerechtigkeiten auch besser verdecken und aufrecht erhalten als durch vornehmes Schweigen?
Desolidarisierung
Einige - wenige - Betroffene suchen nach Bewältigungsstrategien und sie suchen sie in Selbstorganisation und "Solidarität". Indes dürfte dies schwer zu gewinnen sein. Solidarität ist kaum zu mobilisieren, nicht von denen, die "sich's gerichtet haben" und in den Institutionen "untergekommen" sind.

Denn auch wenn man es nicht zum zentralen, sozialen Bruch unserer Tage erklären sollte, zu bemerken ist doch, dass die, die "drin" sind, grundsätzlich von Abhängigkeit, Verfügbarkeit und Auswechselbarkeit derer, die es nicht sind, profitieren.

Aber auch die "draußen" bleiben unsolidarisch und uneins. Anders als ihre manuell arbeitenden Vorgänger zeigen die "Akademikerproletarier" unserer Tage wenig Neigung, sich zur sozialen Bewegung zusammenzuschließen.
Fragmentierung
Auch das hat mehrere Gründe. Zum einen zeigt die Untersuchung, dass sich die wenigsten selbst als gefährdet wahrnehmen. Man wurstelt weiter und hofft, die gegenwärtige Situation sei nicht von Dauer. Gefährdet sind immer die anderen. Dass man mit ihnen mittlerweile im selben Boot sitzen könnte, wird verdrängt.

Gleichzeitig, so wurde in der Diskussion wiederholt laut, erklären sich Gewerkschaften oder etablierte "linke" Parteien für unzuständig. Der schwer administrierbare, auf Kritik spezialisierte, prekäre Intellektuelle ist als Wähler oder Klientel wenig attraktiv.
Divide et impera
Hauptsächlich aber steht einer Solidarisierung der Wettbewerb der gefährdeten Intellektuellen untereinander entgegen. Wer schafft den Einstieg in zumindest temporär stabile Verhältnisse? Wer kriegt das Stipendium, wer den Lehrauftrag? Wer gewinnt die Ausschreibung? Man ist sich selbst der Nächste.

Das Konkurrenzprinzip ist allgegenwärtig. Unter seinen Bedingungen lassen sich Interessensvertretungen kaum organisieren. Das wieder bewahrt den status quo. Divide et impera - teile und herrsche - erweist sich auch hier als brauchbare Managementdevise.
Der Ausschluss und sein Preis
Als paradoxe Folge ihrer Freiheit geraten die Intellektuellen also in Abhängigkeit von Insidern. Diese wieder ermöglicht (Zitat Rambach) "eine Vielfalt von Machtmissbräuchen und Erpressungen. In diesem relativ deregulierten Raum ist das Verbrechen der Majestätsbeleidigung das Schlimmste überhaupt und wie für alle Prekarisierten ist das gute Einverständnis mit dem/der ArbeitgeberIn bzw. dessen RepräsentantIn absolut notwendig."

Die Autorin von "Les Intellos precaires" weiter: "In Bereichen, in denen eigentlich Diskussion und Debatte die Möglichkeit schaffen sollten, besser zu denken, ist diese Unterwerfung nicht ungefährlich. Es wäre interessant zu untersuchen, welche intellektuellen Kosten und Verluste aus solchen Situationen entstehen, die es nahezu immer verbieten, grundsätzliche weltanschauliche Kritik oder Infragestellung der dominierenden Theorien und Methoden an der Universität oder den Forschungseinrichtungen zu artikulieren."
->   IG externe LektorInnen und freie WissenschafterInnen
->   Das Buch: Les Intellos precaires (Editions Fayard)
->   Rezension des Buches (Malmoe)
 
 
 
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