Host-Info
Helge Torgersen
Institut für Technikfolgen - Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft 
 
Das amerikanische Wirtschaftsmodell passt nicht für Europa
von Gunther Tichy
 
  Das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell gerät zunehmend unter Druck. Immer öfter wird gefordert, sich an amerikanischen Vorbildern zu orientieren: Aktienmärkte statt Bankenkontrolle, Eigenvorsorge statt Sozialstaat, Flexibilität statt Langfristorientierung. Warum ist das so, und wem nützt das? Ist das amerikanische Modell überlegen? Kann sich Europa dagegen wehren, und warum soll es das?  
Zwei konsistente Systeme
Die USA wie Europa haben jeweils ausgeprägte, in sich konsistente und auf die jeweiligen Erfordernisse passende Wirtschaftssysteme. Aus der Globalisierung und als Gegengewicht gegen die Europäische Integration entstand ein nachhaltiger Druck der USA auf Übernahme ihrer Wirtschaftsverfassung durch Europa. Aber auch einzelne europäische Interessengruppen zeigen Interesse an der Übernahme spezifischer amerikanischer Elemente, die ihren jeweiligen Interessen nutzen.
Weder die Übernahme der gesamten US-Wirtschaftsverfassung noch die Transplantation einzelner Elemente liegt jedoch im wohlverstandenen Interesse Europas. Die Übernahme einzelner, nicht in das Gesamtsystem passender Elemente würde zu erheblichen Reibungsverlusten führen, und die Übernahme der gesamten transatlantischen Wirtschaftsverfassung stößt auf deren Unvereinbarkeit mit der europäischen Mentalität, den europäischen Werten und den existierenden Institutionen.
...
Institutionen in der Wirtschaftsverfassung
Institutionen im Sinne der Wirtschaftsverfassung sind die formalen und informellen Regeln und Vorkehrungen zu deren Durchsetzung, die das Verhalten der Individuen wie der Firmen strukturieren und koordinieren. Regeln über die Finanzierung der Unternehmen gehören dazu ebenso wie die Abgrenzung der Eigentumsrechte oder Art und Umfang der Regulierung bzw. des Eingriffs in Marktprozesse
...
Warum Druck der USA?
In den USA erfolgt die gesamte Steuerung der Wirtschaft über Aktienmarkt und Börse. Oberstes Ziel ist die Maximierung des shareholder value. Manager und Unternehmer stehen somit unter strikter Kontrolle der Finanzmarkt-Analysten und der großen Anlagefonds, deren Kauf- und Verkaufsentscheidungen letztlich Investitionen und Beschäftigung in den Firmen bestimmen. Der mächtige US-Kapitalmarkt dominiert nicht bloß die internationalen Finanzorganisationen, sondern zieht auch Anleger aus aller Welt an. Die USA sind der größte Importeur von Finanzkapital, das sie auch benötigen, um ihr enorm hohes und steigendes Leistungsbilanzdefizit (4 % des Brutto-Inlandsprodukts) zu finanzieren. Demgemäss suchen die USA zu verhindern, dass ein effizienter Euro-Kapitalmarkt entsteht, der Mittel aus New York abziehen und die US-Auslandsfinanzierung erschweren könnte.
Bedrohung der USA durch den Euro
Die USA haben als Folge der hohen Leistungsbilanzdefizite der Vergangenheit eine sehr hohe Auslandsverschuldung. Solange der Dollar die einzige Weltwährung war, legten Zentralbanken, Banken, Händler und Privatanleger ihre Reserven bzw. Vermögen gerne in Dollar an; es gab fast keine quantitativ relevanten Alternativen. Aber seit der erfolgreichen Einführung des Euro gibt es eine alternative Weltwährung. Schichten die Anleger einen Teil ihrer Dollaranlagen in Euro um, was inzwischen langsam begonnen hat, müsste der $-Kurs rapide verfallen, wenn es den USA nicht gelingt, rasch Leistungsbilanzüberschüsse in der zu erzielen. Da die Chance dafür eher gering ist, bleiben allein die forcierten Bemühungen, durch enge Ankopplung der europäischen Wirtschaft die amerikanische (Kapitalmarkt-)Dominanz aufrecht zu erhalten.
Bedrohung Europas durch US-Regeln
Warum sollte sich Europa der Transplantation der amerikanischen Wirtschaftsverfassung widersetzen?
Die amerikanische Wirtschaftsverfassung passt gut zur Einstellung der amerikanischen Bürger zu wichtigen Lebensfragen und zu den amerikanischen Institutionen: von den bereits erwähnten Institutionen des Kapitalmarkts über die des Arbeitsmarkts, der Bilanzierungsvorschriften, von Regulierung und Schadenersatzrecht bis zu denen der individuellen Absicherung, der Einkommensverteilung, Verbrechensbekämpfung und Armut. Die einzelnen Elemente passen gut zusammen, entsprechen aber nicht der europäischen Mentalität, und ihre Übernahme würde einen schwerwiegenden Umbau des gesamten europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems voraussetzen.
Unterschiede zwischen den Systemen
In den USA dominiert das Menschenbild des starken Individuums, das den Aufstieg aus eigener Kraft schafft; Reichtum ist der wichtigste Maßstab für Erfolg und Freiheit: "Wenn kleine Kinder nicht mehr hoffen können, einmal so viel Geld zu verdienen wie ich", rechtfertigte Chrysler-Chef Lee Iacocca einmal sein zweistelliges Millionen-Dollar-Jahreseinkommen, "wozu soll dieses Land noch gut sein?" Effizienz als individuelles wie als gesamtwirtschaftliches Ziel resultiert in den USA eindeutig vor Einkommensverteilung.
...
The American Way
Dementsprechend schwach das Interesse an denen die es nicht schaffen: Das Einkommen von 17 % der US-Bürger liegt unter der Armutsgrenze (in Österreich 7 %), und zwar beträchtlich (um 35 % gegen bloß 20 % in Österreich). Die Beschäftigungsverträge sind in den USA durchwegs kurzfristig, die Arbeitskräfte überwiegend bloß angelernt. Die Bindung an das Unternehmen ist für Beschäftigte wie für Unternehmer schwach ausgeprägt: Man gründet Unternehmen rasch und verkauft sie rasch - "cash out" - wenn das rentabel ist. Kleinunternehmen gelten oft als Versager, denen es nicht gelungen ist, groß zu werden. Die Kapitalmarktsteuerung durch Analysten und Fonds, die unvermeidlich primär an raschen Erfolgen interessiert sind, erzwingt primär kurzfristige Gewinnmaximierung ("short terminism").
...
Zusammenspiel der Elemente im US-System
Das Konzept der Maximierung des shareholder value bedeutet, dass der Manager bei einem Sinken des Kurses der Aktien seiner Firma sofort gewinnsteigernde Maßnahmen publikumswirksam ankündigen und ergreifen muss; üblicherweise ist das eine deutliche Reduzierung der Belegschaft und eine darauf aufbauende Prognose steigender Gewinne.
In den USA ist eine solche Aktion relativ unproblematisch: Die Belegschaft ist meist bloß angelernt (in der Produktion Fließbänder mit kurzen Taktzeiten und ohne Facharbeiter), kann daher aus Unternehmenssicht bei schlechterer Auftragslage leicht reduziert und bei besserer leicht wieder ausgeweitet werden ("hire and fire-System"). Auch die Arbeitnehmer verlieren bei Kündigung weniger als in Europa, da sie - weil bloß angelernt - kein firmenspezifisches Humankapital zu verlieren haben, und anderswo rasch wieder angelernt werden können.
Mehr zu den Problemen flexibler Arbeitsmärkte in G. Tichy: Informationsgesellschaft und flexiblere Arbeitsmärkte?
->   ITA manu:script
Zukauf von Innovationen
Allerdings können Unternehmen ohne firmenspezifisches Humankapital schwerer innovieren; doch auch dafür gibt es in den USA die systemkonforme Lösung: Innovationen werden vielfach zugekauft, teils von projektspezifisch zusammengestellten, weitgehend externen Teams, vor allem aber durch Ankauf innovativer Gründerfirmen. Diese werden mit venture capital gegründet und ausgebaut und bei Erfolg der jeweiligen Innovation an einen der Konzerne verkauft. Die Verfügbarkeit erheblicher Summen an venture capital resultiert aber wiederum aus der - bereits erwähnten - massiv ungleichen Einkommensverteilung: Superreiche legen eben einen Teil ihres Vermögens auch in riskanten, aber potentiell höchst ertragreichen Formen an.
Es ist leicht ersichtlich, dass alle Elemente dieses System eng miteinander verbunden sind und gut zusammenspielen, und von allen Beteiligten akzeptiert werden. Es ist aber ebenso ersichtlich, dass keine dieser Voraussetzungen in Europa auch bloß annähernd gegeben ist, und den meisten Europäern auch nicht erstrebenswert erscheint.
Mehr Beschäftigung durch US-System?
Spricht das etwas raschere Wirtschafts- und Beschäftigtenwachstum nicht für die Überlegenheit der amerikanischen Wirtschaftsverfassung?
In den letzten Jahren verlief die amerikanische Wirtschafts- und Beschäftigtenentwicklung tatsächlich günstiger als die europäische. Doch erstens war das nicht immer so, über längere Perioden hinweg wachsen die USA keineswegs rascher als Europa, und zweitens ist die jüngst günstigere Entwicklung primär Folge der rasch reagierenden amerikanischen Geld- und Fiskalpolitik, die trotz des rascheren Wachstums erheblich expansiver ist als die europäische.
Dank expansiver Geldpolitik sind die Zinssätze in den USA erheblich niedriger als in Europa, und die Fiskalpolitik stützt das Wirtschafts- und Beschäftigtenwachstum durch massive Budgetdefizite im Ausmaß von 4 %, in Kürze 5 % des Brutto-Nationalprodukts; nach Maastricht-Kriterien hätten die USA längst einen Blauen Brief bekommen müssen.
Überdies wird das raschere Wachstum der USA - wie erwähnt - durch ein massives Leistungsbilanzdefizit, eine sehr ungleiche Einkommensverteilung, und erhebliche Armut, selbst Vollbeschäftigter ("working poor") erkauft, Nebeneffekte, die die meisten Europäer nicht akzeptieren würden.
Ist Koexistenz möglich?
Wenn das europäische wie das amerikanische Wirtschaftssystem den Bedürfnissen des jeweiligen Kontinents entsprechen, und daher beibehalten werden sollten:
Können zwei unterschiedliche Wirtschaftssysteme in einer globalisierten Welt nebeneinander bestehen?
Ja, denn die Verflechtung ist zwar innerhalb der Blöcke sehr stark, zwischen deren Blöcken jedoch erstaunlich schwach. Die Außenbeziehungen der USA wie der EU machen bloß zwischen 10 % und 15 % des Brutto-Nationalprodukts aus, und zwar jeweils mit der gesamten Welt, nicht bloß mit dem jeweils anderen Block. Überdies müsste das Nebeneinander-Bestehen zweier unterschiedlicher Systeme vor allem amerikanischen Vorstellungen entsprechen: Was kann es für einen überzeugten Vertreter des Marktmodells Besseres geben als einen Wettbewerb der Systeme?
...
Mehr dazu in Gunther Tichy: Wirkungen und Herausforderungen der Globalisierung - Innovation und Technologie, in: Wirkungen und Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung, Conturen II/98, Sondernummer, pp. 49-67
...
Ist das europäische Wirtschaftssystem optimal?
Dass die europäische Wirtschaftsverfassung für Europa besser geeignet ist als die amerikanische bedeutet allerdings keineswegs, dass sie nicht verbesserungsbedürftig wäre. Allerdings bedarf es dazu weder einer Forcierung der Kapitalmarktsteuerung noch einer Forcierung kurzfristiger Arbeitsverträge. Es bedarf allerdings einer Anpassung der europäischen Institutionen einerseits an die nun EU-weiten Märkte, andererseits an eine inzwischen wohlhabend gewordene Gesellschaft und deren Prioritäten. Als Stichwörter seien beispielhaft der Abbau von überholten Regulierungen, neue Formen der Sozialpartnerschaft, Umbau - nicht Abbau - des Sozialsystems und Reform des Steuersystems erwähnt, das derzeit die Arbeit zugunsten von Kapital und Ressourcen übermäßig belastet.
...
Mehr dazu in Gunther Tichy: Wirtschaftsverfassung als Wettbewerbsinstrument - Zum beginnenden Wirtschaftskrieg mit den USA, in: R. Weinzierl, Hg, Hegemonie des American Way of Life oder europäischer Weg? Wien: Löcker
...
 
 
 
ORF ON Science :  Helge Torgersen :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick