Host-Info
Peter Weinberger
Institut für Technische Elektrochemie und Festkörperchemie, Technische Universität Wien
 
ORF ON Science :  Peter Weinberger :  Wissen und Bildung 
 
Lieber Anton Zeilinger
Ein Briefwechsel
 
  Ich bin froh, dass Du in Deinem letzten Brief die gewaltigen Umbrüche erwähnt hast, die innerhalb des letzten Jahrhunderts die Gesellschaft verändert haben.  
"Weltbild" und "Gesellschaft"
Den von dir verwendeten Begriff "Weltbild" will ich lieber nicht benutzen. Er erinnert mich zu sehr an traditionelle Philosophie - an eine Philosophie, die Vergangenheit reflektiert.

"Gesellschaft" passt schon eher, da damit in Erinnerung gerufen wird, dass diese Veränderungen nicht überall stattgefunden haben: Wir sprechen eigentlich immer nur über uns, über die entwickelten Länder, über den kleineren Teil der Menschheit, der Europa, Nordamerika und Japan bewohnt.

Es mag schon sein, dass in diesen Teilen der Welt Demokratie zur Selbstverständlichkeit geworden ist, allerdings: So demokratisch sind wir wieder nicht, wenn ich zum Beispiel an die gesellschaftliche Rolle von Frauen denke. Da könnte das eben begonne Jahrhundert noch einiges beitragen...
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Vom Thron der Schöpfung
Es stimmt schon, dass der homo sapiens im Begriff ist, vom Thron (der Schöpfung?) gestoßen zu werden, vermehrt zum eigentlichen Objekt naturwissenschaftlichen Interesses geworden ist; dass Molekularbiologie, Genforschung etc. die Physik von ihrem angestammten Platz als "frontier science" verdrängt haben.

Aber: Auch zu Ende des 19. Jahrhunderts hat man geglaubt, mit Maxwell sei nunmehr die Physik abgeschlossen und auf eine Art technische Anwendungsbotanik reduziert. Das angemaßte "sapiens" und die "alte, abgeschlossene Physik" haben in der Folge nicht unwesentlich den Ersten Weltkrieg mitbestimmt.
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Quantenmechanik: Noch nicht "verdaut"?
Selbstverständlich hast Du recht mit Deiner Bemerkung, dass selbst die Quantenmechanik (nach 100 Jahren) noch immer nicht "verdaut" ist.

Sie hat zwar das praktische Alltagsleben in unseren Teilen der Welt revolutioniert, aber auch eine - von Einstein befürchtete - Unschärfe in physikalischen Begriffen und in der diese Begriffe verbindenden Sprache mit sich gebracht.

Damit meine ich nicht die endlosen Diskussionen um "Kausalität", sondern vielmehr verschwommene Begriffe wie zum Beispiel "Zustand" (state) und andere, die in selbsterklärender Weise verwendet werden, sozusagen als "deus ex machina" physikalischer Erkenntnis.

In dem Maße, wie experimentelle (apparative) Anforderungen gestiegen sind, wie Computer Eingang in die theoretische Physik gefunden haben, hat auch eine Trivialisierung der Quantenmechanik stattgefunden.
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Neue Ikonen
Die Computerprogrammen unterliegenden quantenmechanischen Modelle sind Anwendern dieser Programme vielfach nur mehr vage bekannt; eine Verbildlichung (Ikonisierung) in der Physik hat sich in den letzten Jahren breit gemacht, die die Gefahr in sich birgt, so geschaffene Ikonen mit der "Wirklichkeit" zu verwechseln. Der alte Anspruch der Physik, Wirklichkeit abzubilden (zu messen) läuft Gefahr, sich im Cyberspace populistischer Trivialisierung zu verlieren.
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Diese Ikonisierung ist nicht von ungefähr gekommen. Sie ist zum allumfassenden Moment unserer Gesellschaft geworden; sie bestimmt weitestgehend Kommunikation schlechthin.

"Reality shows" und "Reality speech", sozusagen Taxi Orange auf der Alltagsebene, sind im Begriff, Verhaltensweisen und Sprache zu normieren (ikonisieren), virtuelle Wirklichkeiten zu erzeugen, und so auch eine Entsolidarisierung und damit eine Entdemokratisierung der Gesellschaft zu bewirken.
Wo und wohin geht es weiter?
Deine Frage nach "wo und wohin geht es also weiter in den nächsten hundert Jahren" ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Nun, wir beide sind keine Zukunftsforscher, wir werden sicher nicht über ein von Robotern bestimmtes Alltagsleben ins Schwärmen geraten.

Es gehört aber schon zu unserer Aufgabe darauf hinzuweisen, dass Wirklichkeiten als solche erkannt werden müssen; dass es ein kumulatives menschliches Wissen gibt, das es auch in Zukunft zu vermehren gilt; dass Molekularbiologie, trotz Thronsturz, im wesentlichen "soft matter physics" beinhaltet, für die selbstverständlich auch im nächsten Jahrhundert die schlecht verdaute Quantenmechanik gilt.

Mit besten Grüßen

Peter Weinberger
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->   Anton Zeilinger: Lieber Peter Weinberger!
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