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Ausstellung zur Psychiatrie im Nationalsozialismus  
  Bis zu 200.000 Menschen wurden unter der nationalsozialistischen Herrschaft ermordet, weil sie psychisch krank oder geistig behindert waren. Die Ausstellung "In memoriam" thematisiert die Psychiatrie im Nationalsozialismus - sie ist bis Freitag im Wiener Museumsquartier zu sehen.  
Ernst Lossa: Ein Fall von 200.000

Ein Bub mit kariertem Hemd, Pulli und dunkler Jacke, der Kopf kahl geschoren. Das Schwarz-Weiß-Foto prägt die Plakate zur Ausstellung "In memoriam. Psychiatrie im Nationalsozialismus".

Der Bub ist der etwa 14-jährige Ernst Lossa, er galt als schwer erziehbar. In seiner Krankengeschichte der deutschen Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren steht dem Formblatt entsprechend zu lesen: "entlassen am 9.8.44", doch die Ortsangabe ist durchgestrichen und ersetzt durch das handgeschriebene Wort "euthanasiert".

Sein Schicksal hat Jahrzehnte später der Ausstellungsmacher Michael von Cranach aufgearbeitet. Er ist heute Ärztlicher Leiter der Psychiatrischen Klinik Kaufbeuren. "Der Direktor des Krankenhauses hatte eine gewisse Reserve, Ernst Lossa zu töten. Doch der Verwaltungsleiter bestand darauf. Und so wurde er getötet", so von Cranach.
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Aktion T4 - "Kinder-Euthanasie" - "Wilde Euthanasie"
Im Zuge der "Aktion T4" (benannt nach dem Zentrum der Organisation in der Berliner Tiergartenstraße 4) wurden im "Deutschen Reich" mehr als 70.000 Psychiatriepatienten in eigens eingerichteten Tötungsanstalten mit Gas ermordet. 5.000 Kinder wurden Opfer der so genannten "Kinder-Euthanasie", die nach dem Stopp der "Aktion T4" 1941 systematisch ausgebaut wurde. Und nach dem Einstellen ging das Morden von Psychiatriepatienten auch im Rahmen der "Wilden Euthanasie" weiter - zum Teil durch Todesspritzen, zum Teil durch die von den Nazis so benannte Hungerkost.
->   Informationen zum NS-Euthanasieprogramm (Deutsches Historisches Museum)
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Todesurteil "Hungerkost"
In vielen Kliniken wurde eine "Hungerkost" eingeführt, wie es im Nazi-Jargon hieß. Zunächst in Bayern und später auch in vielen Reichsanstalten - steht im Ausstellungskatalog zu "In memoriam. Psychiatrie im Nationalsozialismus" zu lesen.

90.000 Menschen seien entweder unmittelbar an den Folgen der "Hungerkost" gestorben oder mittelbar an durch das Hungern herbeigeführte Erkrankungen (meist Tuberkulose).
Ein Kind durchschaut das System
"Wir haben herausgefunden, dass Ernst Lossa das ganze System in Kaufbeuren durchschaut hat. Er ist z.B. in die Vorratskammern eingebrochen und hat Lebensmittel an die hungernden Kinder verteilt", so Michael von Cranach in Ö1.

Ernst Lossa ist einer von geschätzten 200.000 Menschen, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft ermordet wurden, weil sie psychisch krank oder geistig behindert waren.
Ärzte wussten Bescheid
Wie viele Ärzte und medizinisches Personal in den unterschiedlichen Krankenhäusern und Anstalten involviert waren, lasse sich nicht in absoluten Zahlen festmachen. Dass alle Bescheid wussten, davon ist Michael von Cranach überzeugt. Nur wenige hätten Widerstand geleistet.
Dokumente, Fotografien, Kunst
Die schlichte Ausstellung "In Memoriam. Psychiatrie im Nationalsozialismus" ist bis Freitag im Wiener Museumsquartier (Barocke Suiten) zu sehen. Sie gliedert sich in drei Bereiche:

- Schilderung der Umsetzung des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms anhand von Dokumenten und Korrespondenzen.

- Eine Serie von Fotografien des Fotografen Ray d'Addario vom Nürnberger Ärzteprozess 1946/47.

- Zwei Arbeiten der Künstlerin Beate Passow, die sich in ihrem Werk immer wieder mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandersetzt.

Ursprünglich wurde die Ausstellung übrigens 1999 in Hamburg anlässlich des 9. Weltkongresses für Psychiatrie gezeigt, im Anschluss auch in Augsburg und im italienischen Pisa. Die nächste Station der Ausstellung wird in Griechenland sein.

Barbara Daser, Ö1-Wissenschaft
->   Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren
Mehr zu diesen Themen in science.ORF.at:
->   Online-Datenbank zu "Euthanasie"-Verbrechen (30.9.03)
->   Euthanasie-Aktion T4: Auswertung der Krankenakten (22.1.03)
->   Otto Urban: Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie (7.5.02)
->   Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung (25.4.02)
 
 
 
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01.01.2010