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Henri Bergson: Die "Intuition" und die Avantgarde  
  Der französische Philosoph Henri Bergson war Anfang des 20. Jahrhunderts ein populärer Vertreter von einer neuen Vorstellung der zeitlichen Dauer und der damit verbundenen Verwirklichung. Inwiefern das Modephänomen des "Bergsonismus" und die "Intuition der Dauer" mit dem zeitgenössischen Avantgardismus und der Kunst Marcel Duchamps im Zusammenhang steht, erörtert die Philosophin Sarah Kolb, derzeit IFK-Junior-Fellow in Wien, anlässlich eines Vortrages.  
Vordenker des Schöpferischen: Bergson und die Avantgarden
Bild: IFK
Von Sarah Kolb

Im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts ist der Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson eine illustre Persönlichkeit. Seine Bücher erzielen Rekordauflagen, seine Vorlesungen platzen aus allen Nähten, und nicht nur in akademischen Kreisen - auch in der zeitgenössischen Kunstwelt entfacht sich eine engagierte Debatte über den "Bergsonismus".

Was ist das unerhört Neue und Kontroversielle an Bergsons Philosophie? Welche Themen und Thesen machen sie zu einem Brennpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit?
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Vortrag am IFK
Sarah Kolb hält am 19. Juni, 18.00 c.t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Präzisionsmalerei und Indifferenzschönheit:
Bergson, Duchamp und der Topos der Intuition".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Details zur Veranstaltung (IFK)
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Jenseits von Raum und Zeit: Die Dauer
Was bedeutet es, wenn man Zeit misst? Ausgehend von dieser Frage propagiert Bergson einen Gegenentwurf zum herkömmlichen Zeitbegriff.

Letzterer zielt seines Erachtens am Wesen der wirklichen Zeit vorbei: Die Vorstellung von einem ausgedehnten und messbaren Medium, in dem sich einzelne Zeitpunkte wie Perlen entlang einer Kette aneinander reihen, leistet nach Bergson nicht mehr als eine künstliche Rekonstruktion des bewussten Erlebens.

Als Gegenspielerin einer derartigen Zeitvorstellung definiert Bergson die wirkliche, psychisch erfahrene Zeit als "Dauer". Denn in Wirklichkeit - so sein Argument - durchdringen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenseitig, und in jedem Bewusstseinsvorgang kann sich potentiell die ganze Seele abspiegeln.

Bergson charakterisiert die Dauer somit als einen Modus der Verwirklichung, der ein kontinuierliches Ineinander-Übergehen unterschiedlicher Qualitäten beschreibt.
Eine Methode? Intuition!
Die Dauer entzieht sich aber folglich nicht nur dem Zugriff des Denkens, sondern auch einer sprachlichen Vermittlung. Um seine These dennoch bekräftigen zu können, vollzieht Bergson einen philosophischen Kunstgriff: Er führt - mehr als paradox - seine "Methode der Intuition" ins Treffen.

Diese "Methode" erfordert eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die "unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins". Sie impliziert eine offene und kreative Haltung im Hinblick auf die Totalität einer in dauernder Veränderung begriffenen Lebenswirklichkeit. Nach Bergson ist Intuition ein Inbegriff schöpferischen Bewusstseins.
Der Zeit voraus - den Zeitgeist getroffen
Bergson trifft den Zeitgeist sozusagen im wahrsten Sinne des Wortes. Insbesondere bei der zeitgenössischen Kunstwelt rennt er mit seiner "Intuition der Dauer" offene Türen ein - hegt letztere doch keinen geringeren Anspruch, als ihrer Zeit voraus und eine Wegbereiterin des Neuen zu sein.

Was unter Künstlern en vogue ist, ist in einem Wort: die Avantgarde - ist ein intuitives Moment, ist das Brechen mit Konventionen, ist ein befreiender und zukunftsweisender Blick; ist eine Ästhetik der Bewegung und Veränderung; ist ein experimenteller und programmatischer Zugang, der Kunstpraxis als Lebenspraxis inszeniert.
Strategien des Avantgardismus
Die Theorie und Praxis der diversen Avantgarden weist ein breites Spektrum bergsonscher Motive auf. Während die Kubisten und Futuristen eine Darstellung von Bewegung und Veränderung nach dem Prinzip der Simultaneität versuchen, sind die Bildwelten der Surrealisten und Dadaisten von Spontaneität und Zufall geprägt.

Ein intuitiver Aspekt steht hier wie dort im Mittelpunkt des Kunstgeschehens, und mit ihm die schöpferische Präsenz nicht nur des Künstlers, sondern auch des Publikums. "Der Betrachter macht das Bild." Mit dieser Parole bringt Marcel Duchamp einen Entwicklungsgedanken auf den Punkt, der nicht zuletzt den Kunstbegriff selbst betrifft und mit dem er für Generationen von Künstlern zum Vorreiter wird.
Bergson "goes Pop"
Duchamps Kunst, die jenseits von Manifesten spielt und sich partout nicht festlegen will, hinterlässt nicht nur bei seinen Zeitgenossen tiefen Eindruck. In ihrer nachhaltigen Aktualität beginnt sie sich der Kunstwelt erst seit den 1960er Jahren zu erschließen: Duchamp wird zum Wegbereiter von Pop-Art, Nouveau Realisme, Fluxus und Konzeptkunst.

Was hätte Bergson zu all dem gesagt? Eine seiner wenigen Stellungnahmen ließe nur sein äußerst skeptisches Urteil vermuten: "Im Bezug auf Kunst würde ich Genialität bevorzugen, und Sie?" Oder hätte Bergson Duchamps eigensinniger Auffassung von künstlerischer Intuition zuletzt etwas abgewinnen können? Letzterer wäre wohl so oder so bei seiner berühmten "Indifferenz" geblieben: "Die Kunst beginnt dort, wo ich ein Zigarette anzünde. Möchten Sie eine?"

[19.6.06]
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Über die Autorin
Sarah Kolb, Mag. phil., studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Psychologie und Physik an der Universität Wien und ist u.a. freischaffende Kunsttheoretikerin und Doktorandin am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Angewandte Kunst Wien. 2005/2006 arbeitet sie als IFK_Junior Fellow am Projekt "Bergson und Duchamp. Opposition und Schwesterfelder sind versöhnt".

Mit der Vergabe von Junior Fellowships fördert das IFK Dissertanten (bis zum 35. Lebensjahr) mit kulturwissenschaftlichen Projekten. IFK_Junior Fellowships werden für ein Jahr vergeben, beinhalten ein monatliches Stipendium und einen Arbeitsplatz am Institut, der den Austausch mit den Senior und Research Fellows des Instituts befördert. Junior Fellowships werden vorzugsweise an österreichische Studierende vergeben. Die nächste Ausschreibung ist im Oktober 2006.
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->   Henri Bergson bei Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010