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Radikaler Konstruktivist: 90. Geburtstag von Ernst von Glasersfeld  
  Mitte der 1980er Jahre sind drei Bücher erschienen, die eine neue Wissenschaftsrichtung mit wichtigen Originalarbeiten im deutschsprachigen Raum vorstellten: den radikalen Konstruktivismus. Sie stammten von Heinz von Foerster, Humberto R. Maturana und Ernst von Glasersfeld. Glasersfeld, bekannt für seine Beiträge zu Sprachphilosophie und Lerntheorie, feiert am 8. März seinen 90. Geburtstag. Karl H. Müller, der Präsident der Heinz von Foerster-Gesellschaft in Wien, würdigt ihn in einem Gastbeitrag.  
Ein Weiser der Welterzeugung
Von Karl H. Müller

Von dem Triumvirat war Heinz von Foerster wohl der formal und modelltheoretisch versierteste, der ein eigenes Forschungsprogramm unter dem Namen einer Kybernetik zweiter Ordnung entwickelte.

Humberto R. Maturana war der am stärksten biologisch ausgerichtete, der unter dem Titel Autopoiesis eine neue Perspektive für lebende Systeme, BiologInnen eingeschlossen, ins Gespräch brachte.

Und Ernst von Glasersfeld war wahrscheinlich der philosophischste Kopf, der vor allem durch seine sprachphilosophischen und lerntheoretischen Beiträge für nachhaltiges Interesse sorgte.
Stationen: Deutschland, Österreich, Irland, Frankreich, USA
Bild: science.ORF.at/rc
Ernst von Glasersfeld
Wer war nun dieser dritte Mann im Bunde, der sich 1987 mit dem Buch "Wissen, Sprache und Wirklichkeit" einem größeren deutschsprachigen Publikum präsentierte? Ernst von Glasersfeld wurde am 8. März 1917 in München geboren - sein Vater war der Prager Jurist und Diplomat Leopold von Glasersfeld, seine sehr sportlich interessierte Mutter Helene wuchs in München auf.

Seine Kindheit verbrachte er hauptsächlich in Meran, seine Jugendjahre in einem Schweizer Internat in Zuoz und seine ersten Studien führten ihn an das Fach der Mathematik an der ETH Zürich.

Nach einem kurzen Intermezzo an der Universität Wien - wiederum im Gebiet der Mathematik - begann für ihn ein sehr bewegtes Leben, das ihn um die halbe Welt führte: nach Australien, kurzfristig nach Paris, zu einem Bauernhof in Irland als Refugium während des Zweiten Weltkriegs - einschließlich einer Bekanntschaft mit Erwin Schrödinger -, nach Italien zum Philosophen und frühen Kybernetiker Silvio Ceccato, dessen Zeitschrift "Methodos" er ab 1947 ins Englische übersetzte, und schließlich ab den sechziger Jahren in die Vereinigten Staaten und in die Zentren der damals entstehenden Kognitionswissenschaften und Psycho-Linguistik.
Einfluss von Wittgenstein und Freud
Obwohl Ernst von Glasersfeld sich nur im Wintersemester 1936 in Wien aufhielt, wurde er hier - neben einer bedrückend antisemitischen Stimmung an der Universität - mit zwei Büchern konfrontiert, die ihn beide bis heute zentral berühren.

Das eine Buch war der "Tractatus logico philosophicus" von Ludwig Wittgenstein, der ihn in die Theorie der Sprache einführte und ein mögliches Bild von Sprache festschrieb. Für Ernst von Glasersfeld wurde - nach eigenem Bekunden - der "Tractatus" deswegen so bedeutsam, weil er mit seiner Abbildverhältnis von Sprache und Wirklichkeit einen Weg des Sprach-Verständnisses aufzeigte, der für ihn nicht gangbar oder, wie er es später ausdrücken sollte, viabel schien.

Und das andere zentrale Werk bildete für ihn "Die Traumdeutung" von Sigmund Freud, worin die Hauptrolle des Traumerzählers - "die Analyse eines Traums kann nur von den Träumenden gemacht werden" - verankert wird, etwas, das für ihn ein wichtiger Fokus auch für andere subjektive Bereiche - Erlebnisse, Bewusstsein, Lernen, Selbstreflexion - bleiben sollte.
Lernen heißt Schemata ersetzen
Seine wissenschaftlich bedeutsamen Arbeiten beginnen mit der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten im Jahre 1966. Überaus folgenreich gestalten sich die Glasersfeldschen Beiträge im Bereich der Lerntheorie und der Unterrichtsdidaktik, weil hier die Rolle der Schülerin oder des Schülers - analog zur Traumdeutung - eine zentrale Rolle übernehmen sollte.

Lernen wurde bei Glasersfeld nicht im herkömmlichen Sinne als die Aneignung von Wissensbeständen - wie man sich Speisen einverleibt - gesehen, sondern als ein ungleich komplexerer Prozess der Substitution, in der bestehende Schemata nach und nach durch neue ersetzt werden.

Für diesen Ersetzungsprozess wurden für ihn die Grundbegriffe der Piagetschen Lerntheorie - Assimilation und Akkomodation - ebenso wichtig wie die detaillierte Beschreibung von Lernsequenzen, die in solchen Ersetzungsprozessen durchlaufen werden. Auf diesem Feld avancierte Ernst von Glasersfeld zu einem der Pioniere einer konstruktivistischen Lerntheorie, welche in den Jahrzehnten seither an Bedeutung und Verbreitung stark zugenommen hat.
"Gemeinsame" Sprache von Mensch und Schimpanse
Nicht minder interessant erweisen sich die Glasersfeldschen Beiträge dort, wo es um Sprache, das Sprachverstehen oder auch um die Kommunikation zwischen Menschen und Tieren ging.

Auch dabei kann Ludwig Wittgenstein - diesmal der spätere Wittgenstein der "Philosophischen Untersuchungen" - als das nicht-gangbare Gegenmodell herhalten, wenn es dort heißt: "Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen".

Vielmehr entwickelte Glasersfeld eine symbolische Mensch-Schimpansen-Sprache, die zwanglos und wie von selbst eine gemeinsame Grundlage für Kommunikationsprozesse von Schimpansen und Menschen herstellte.
Sensorik, Motorik und Umwelt
Diese Sprache setzte sich aus Start- und Endsymbolen, Objekten und Operationen zusammen und wies eine Minimalgrammatik für die Satzbildung - einschließlich der Möglichkeit von Fragesätzen - auf.

Wichtig am Funktionieren dieses Sprachsystems war retrospektiv der dreifache Zusammenhang von Sensorik - das Display -, Motorik - das Tippen von Tasten mit unterschiedlich farbigen Symbolen - und der Umwelt.

Denn einerseits erzeugte hier die Sensorik die Motorik und die Motorik die Sensorik - und andererseits waren die Produkte - Sätze - in einfache Lebensumstände - Nahrung, soziale Kontakte u.a. - durchaus kreativ verwoben.
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Zwei Bücher zum Thema
Eine Doppel-Biographie von Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster ist unter dem Titel "Wie wir uns erfinden" (Carl Auer-Verlag 1999) verfügbar. 2005 erschien ein vom Autor und Albert Müller herausgegebener Band unter dem Titel "Ernst von Glasersfeld: Radikaler Konstruktivismus - Versuch einer Wissenstheorie" in der edition echoraum.
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Prägung des Begriffs "Radikaler Konstruktivismus"
1974 war es Ernst von Glasersfeld selbst, der den Ausdruck vom "Radikalen Konstruktivismus" in die Welt setzte und der seither diesen "Radikalen Konstruktivismus" auch in größere philosophiegeschichtliche Zusammenhänge brachte.

Und Ernst von Glasersfeld hat sich in den letzten Jahrzehnten auch verstärkt um eine philosophische Grundlegung dieses Radikalen Konstruktivismus bemüht.

Beispielsweise trug sein letzter Vortrag an der Universität Wien im Mai 2005 den programmatischen Titel: "Radikaler Konstruktivismus - Versuch einer Wissenstheorie".
Keine Bedürfnis nach Bildung einer Schule
Aber es bedarf der besonderen Betonung, dass der spätere "Radikale Konstruktivismus" nicht der kollektiven und rastlosen Anstrengung dreier eng zusammenarbeitender Personen oder deren Bedürfnis nach der Bildung einer eigenen Schule entsprang.

Vielmehr war es so, dass bis zu diesem Zeitpunkt Humberto R. Maturana unabhängig von den beiden anderen eine neue Form der biologischen Wissenschaften entwickelte, die für Heinz von Foerster ungemein reizvoll für seine eigenen Bestrebungen wurde, dass Ernst von Glasersfeld seine sprach- und lerntheoretischen Arbeiten ohne Bezüge zu den anderen Zwei entwickelte und dass Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung aus einer Fülle verschiedener Aktivitäten und Projekte entsprang und er sich zudem nie so recht mit dem Begriff "Radikaler Konstruktivismus" anfreunden konnte.
Konstruiert in homogenen Sammelbänden
Im allegorischen Theater würde es zur List der Vernunft gehören, dass sich diese drei Personen nicht nur finden, sondern unter dem Sammelnamen "Radikale Konstruktivisten" erfinden konnten - oder sollten.

In ihrer eigenen Terminologie wäre hingegen viel von Selbstorganisation, Zufall und "order from noise" die Rede - immerhin wurden die Drei von ihrer Umgebung - beispielsweise von Paul Watzlawick und später von Siegfried J. Schmidt - in scheinbar homogene Sammelbände integriert.

Und vielleicht sollte gerade der 90. Geburtstag von Ernst von Glaserfeld Anlass genug sein, sich dessen eigenständiger und origineller Arbeiten und Beiträge zu erinnern - und sie unmittelbar zu sich selbst zu würdigen.

[8.3.07]
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Über den Autor
Karl H. Müller ist Präsident der Heinz von Foerster-Gesellschaft in Wien, die im Jahr 2000 gegründet wurde. Als wissenschaftliche Gesellschaft beschäftigt sie sich mit dem Lebenswerk Heinz von Foersters und mit Fragen des Konstruktivismus.
->   Heinz von Foerster-Gesellschaft
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->   Radikaler Konstruktivismus (Uni Wien)
->   Texte von Glasersfeld (oikos)
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Ernst v. Glasersfeld: Die Wirklichkeit als Konstruktion (13.5.05)
 
 
 
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01.01.2010