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Was Städte zu Städten macht  
  Städte wurden in den Sozialwissenschaften bisher vor allem als Kontrast zu Land und Staat untersucht oder als Ort sozialer Konflikte. Der deutsche Stadtsoziologe Helmuth Berking hingegen betont die Eigenlogik von Städten. Die räumliche Struktur einer Stadt prägt ihm zufolge das Denken seiner Bewohner mehr als inhaltliche Etiketten wie "Stahlstadt Linz" oder "Musikstadt Wien".  
Wie man dieses vorreflexive Wissen systematisieren könnte und wo die Grenzen aktueller Stadtplanung liegen, verrät er in einem science.ORF.at-Interview.
science.ORF.at: Stadtsoziologie gibt es nun seit mehr als 100 Jahren. Was macht eine Stadt für Sie eigentlich aus?

Helmuth Berking: In den Sozialwissenschaften gibt es zwei Hauptbetrachtungsweisen. Zum einen wird Stadt als Ort verstanden, in dem sich gesellschaftliche Konflikte ausspielen: die Stadt als Beispiel für die Krisen des Kapitalismus, für die Entwicklung der Moderne, für Segregation usw. Zum anderen werden in den Städten räumliche Formen im Kleinformat untersucht: Armutsviertel, Milieus, damit verbundene Lebensstile usw.

Beide Betrachtungsweisen vernachlässigen meiner Ansicht nach die konkreten Städte. Mir geht es darum, sie zu erforschen. Das ist im Zuge der Globalisierungsdebatte auch viel spannender, denn hier gibt es vor allem Großkonzepte: global cities, world cities usw. Die implizite Logik dabei ist es, Homogenisierungstendenzen zu beschreiben. Mich interessieren aber eher Unterschiede.
Wo befinden sich diese Unterschiede?

Jede Stadt hat eine individuelle Gestalt, und die ist auf zwei Ebenen entstanden. Zum einen natürlich durch die je eigene Geschichte, auf der anderen Seite durch das Messen mit anderen Städten - etwas, das heute Städtekonkurrenz heißt. Wenn man sagt "Wien ist anders", ist das erst einmal eine geniale Konstruktion, weil Wien sich verweigert, überhaupt auf eine andere Stadt Bezug zu nehmen. Aber faktisch geht es nicht um einzelne Städte, sondern um ein Städtesystem.
Gibt es dafür ein Beispiel?

Ich habe in einer Untersuchung die Hafenstädte Rostock und Bremerhaven verglichen. Beide sind von ihrer Sozialstruktur ähnlich, haben ungefähr gleich viele und zunehmend alternde Einwohner, beide sind Industriebrachen, bei beiden spielt der Hafen zwar ökonomisch noch eine wichtige Rolle, aber nicht mehr unbedingt für den Lebensstil.

Und doch gibt es völlig unterschiedliche Atmosphären und Eigenschaften. Das industriekapitalistisch entstandene Bremerhaven wird am besten charakterisiert durch die Aussage eines Taxifahrers, der die Schönheit der Stadt so erklärt hat: "Wir haben hervorragende Durchgangsstraßen." In Rostock ist das Klima hingegen ganz anders, hier gibt es einen historischen Stadtkern, hier wird exzessiv auf die Hanse-Tradition verwiesen.
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Vortrag in Wien
Helmuth Berking hält am Montag, 14. April 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Welche Rolle spielen dabei die Stadtplaner und -entwickler?

In fast allen Städten bieten sie die gleichen Konzepte an. Sie kennen vor allem zwei privilegierte Zielgruppen: die Touristen und die Investoren. Während das aber z.B. in Rostock gut funktioniert, funktioniert es in Bremerhaven nicht. Die Frage ist: Wieso kommen Stadtpolitiker überhaupt nicht mehr auf die Idee, die besonderen Potenziale ihrer Stadt zu nutzen? Daran schließt sich die verrückt klingende Frage an: Wem gehört eigentlich die Stadt?
Haben Sie selbst eine Antwort auf diese Fragen?

Naja, zumindest Facetten einer Antwort. Die eine wäre: Unter dem Schlagwort Neoliberalismus hat es eine kulturelle Revolution gegeben, die bis in die kleinsten Räume des Alltagslebens ökonomische Rationalität als normative Bewertung durchgesetzt hat. Von den Regierungen bis zur Stammkneipe herrscht eine Logik der Effizienz.

Der zweite Versuch einer Antwort: Mit den neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre haben sich auch die stadtpolitischen Bewegungen "von unten" institutionalisiert oder sie sind verschwunden. Es gibt kaum noch Widerstände gegen die Top-Down-Politik.
Wie ist Stadt überhaupt als Wissensobjekt zu denken?

Raumtheoretisch. Stadt ist im Unterschied zu Staat oder Gesellschaft ein sehr eigenständiges, raumstrukturelles Prinzip der Vergesellschaftung. Der Historiker Fernand Braudel hat einmal gesagt: Im 16. Jahrhundert gibt es zwei Dauerläufer, die Stadt und den Staat. Was tun diese beiden?

Der Territorialstaat schließt aus, er hat Grenzen, vergibt Bürgerrechte, bestimmt, wer fremd ist etc. Die Stadt hingegen schließt ein: Sie hat keine Grenzen, keine Mitgliedschaften, ihr Verpflichtungscharakter ist viel geringer. Was die Stadt einschließt, kann man mit dem Soziologen Louis Wirth so bezeichnen: Stadt organisiert Größe, Dichte und Heterogenität.

Stadt ist nichts anderes als eine raumstrukturelle Form der Verdichtung. Das ist deshalb wichtig, weil man so sofort sieht, dass alle inhaltlichen Bestimmungen - z.B. Musikstadt Wien oder Bierstadt Dortmund - zu früh kommen. Die Unterscheidung zwischen Wien und Dortmund ist erst ein Effekt von dem, was da verdichtet wird. Und das, was da verdichtet wird, macht die Eigenlogik einer Stadt aus.
Können Sie das für die Alltagswelt konkretisieren?

Wir als Alltagsmenschen erleben, dass Städte sich in gewisser Weise aufdrängen. Wenn Sie von einer Stadt in die nächste kommen, werden sie die Erfahrung machen, dass Sie sich irgendwie anpassen, ihr körperliches Verhalten abändern müssen. In einer phänomenologischen Tradition kann man sagen: Es gibt eine natürliche Einstellung zur Welt, das wird doxa genannt, kulturelle Erfahrungen, die meinem raumstrukturellen Erleben der Stadt vorausgehen.

Und dieses Vorreflexive würde ich zusammenbringen in einem Konzept von großstädtischer doxa, den lebensweltlichen Hintergrundannahmen. In dem Moment, wo dieses Orientierungswissen in Frage gestellt wird, wo es eine Krise gibt, haben Sie keine doxischen Strukturen mehr, sondern Orthodoxien. Und die übersetzen sich für mich in stadtspezifische Lebensformen, Erzählweisen, aber auch kulturelle Dispositionen. Und die kann man empirisch erforschen.
Wenn Sie das anhand von Wien versuchen, was fällt Ihnen da auf?

Ich bin ja erst seit fünf Wochen in Wien und nehme es in erster Linie als Alltagsmensch wahr. Meine ersten Erfahrungen: Die Geschwindigkeit ist langsamer als in Berlin, wo ich herkomme.

Als ich vor kurzem von der Baumgartner Höhe auf Wien geschaut habe, war ich sehr erstaunt: Die Skyline ist im Gegensatz zu den europäischen Städten, die ich kenne, noch immer bestimmt durch ihre Kirchen. Es gibt zwar ein paar Hochhäuser, aber die Kirchen dominieren, was natürlich mit kulturellen und habituellen Traditionen der Stadt zu tun hat.

Was ich angenehm finde, ist der Wiener Dialekt, der nicht nur bei mir ein Gefühl von Gemütlichkeit hervorruft, zugleich aber eine merkwürdige Ambivalenz von Zugewandtheit und Ironie hat, die schnell in Zynismus umkippen kann. Als Nichtwiener fällt mir auch auf, dass es bei Modernisierungsprojekten wie dem Museumsquartier keine harten Brüche mit der Umgebung gibt.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 14.4.08
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Helmuth Berking ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt und zurzeit Gast des IFK in Wien. Sein aktuelles Forschungsprojekt an der TU Darmstadt heißt "Eigenlogik der Städte". Ziel ist zunächst der Vergleich von britischen bzw. deutschen Städten, später von London und Mumbai.
->   Helmuth Berking, TU Darmstadt
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01.01.2010