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Indische Dreisprachigkeit: Lösung für Europa?  
  Im Umgang mit Mehrsprachigkeit haben Indien und Südafrika Europa einiges voraus. Die Sprachenpolitik beider Länder und ihr Potenzial für Europa haben nun Experten im Rahmen eines Symposiums in Wien erörtert. Für sie liegt der Schlüssel zu einem modernen Europa im Modell der Mehrsprachigkeit.  
"Einsprachigkeit ist eine Krankheit"
Indien hat 22 offiziell anerkannte Sprachen. Jeder fünfte Einwohner spricht zwei oder mehrere Sprachen - zumeist Englisch und Hindi inklusive der überregionalen Sprache einer der 28 Bundesstaaten. Dank einer guten Sprachenpolitik hat sich in dem Staat mit mehr als einer Milliarde Menschen aus der Vielfalt von 298 Sprachen eine sprachlich lebendige Nation entwickelt, die den Prozess der Globalisierung mitmacht, ohne ihre kulturelle Vielfalt zu verlieren.

Kann Indien mit seiner Sprachenpolitik Vorbild für den Umgang mit Mehrsprachigkeit in Europa sein? Shrishail Sasalatti ist davon überzeugt. "Einsprachigkeit ist eine Krankheit", warnt der Experte für interkulturelle Kommunikation und Fremdsprachendidaktik vor monolingualen Tendenzen. "Im Namen der Globalisierung sollte das Erbe der sprachlichen Vielfalt nicht runtergebügelt werden."
Mehrwert von Mehrsprachigkeit
Sasalatti spricht damit auf das Bestreben der EU-Kommission für Mehrsprachigkeit an, im "Europäischen Jahr des interkulturellen Dialogs 2008" verstärkt den sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Mehrwert von Mehrsprachigkeit zu vermitteln.

Gemeinsam mit dem südafrikanischen Literaturwissenschaftler Neville Alexander, politischer Mitstreiter in der Anti-Apartheid-Bewegung und wesentlicher Wegbereiter der modernen Sprachenpolitik Südafrikas, hat der Experte am 11. Juni 2008 bei einem Symposium in Wien über die Chancen der Mehrsprachigkeit diskutiert und erörtert, inwieweit die Europäische Kommission im Streben nach einer gemeinsamen Sprachenpolitik von Ländern wie Indien und Südafrika lernen könnte.
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Konferenz zur Mehrsprachigkeit
Das Jahr 2008 wurde von den Vereinten Nationen zum Internationalen Jahr der Sprachen ausgerufen. Aus diesem Anlass findet vom 13.-15. Juni 2008 in Eisenstadt die Internationale Konferenz "Lebensweltliche Mehrsprachigkeit" statt - veranstaltet vom österreichischen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur sowie der Österreichischen UNESCO-Kommission.
->   Jahr der Sprachen
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Dreisprachigkeit als Lösung
Sasalatti sieht die Lösung für Europa in Indiens Modell der Dreisprachigkeit: Neben der Muttersprache soll die Wahl von zwei weiteren offiziellen Sprachen - beispielsweise Englisch und eine "emotional" oder "wirtschaftlich" wertvolle Drittsprache - ermöglicht werden.

In diese Richtung laufen auch aktuelle Bestrebungen in der EU: Eine von der Europäischen Kommission 2002 einberufene Expertengruppe für Mehrsprachigkeit hat den Vorschlag bestätigt, jeder EU-Bürger möge eine zweite Fremdsprache sowie eine zweite Muttersprache "adoptieren".
Selbstverständlichkeit in Südafrika
"Die Freiheit der Wahl", sieht Neville Alexander als essenzielle Voraussetzung eines solchen Modells. "Nur wer sich frei entscheiden kann, welche drei Sprachen er erlernen will, wird dies auch mit der notwendigen Begeisterung machen." In Südafrika habe jeder Bürger das Recht, in der Sprache der Wahl unterrichtet zu werden. "Mehrsprachigkeit ist in Südafrika heute ganz selbstverständlich", führt der Literaturwissenschaftler aus.

"Wir haben heute elf offizielle Sprachen - im Gegensatz zu Ländern wie Namibia oder Sambia, wo es nur eine offizielle Sprache, nämlich Englisch, gibt."

Dieser Umgang mit der Sprachenvielfalt war aber nicht immer eine Selbstverständlichkeit, sondern ist das Ergebnis eines intensiven politischen Prozesses. "Heute hat Südafrika sicherlich eine der progressivsten Verfassungen der Welt, was die Sprachpolitik angeht", so Alexander.
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Initiative
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Gefahr der Instrumentalisierung
Beide Experten sehen die größte Hürde für eine gelebte Mehrsprachigkeit in der Instrumentalisierung der Sprache als Mittel zur Exklusion beziehungsweise Inklusion.

Sie thematisieren damit ein aktuelles Paradoxon in Europa: Einerseits bekennt sich die EU zur Mehrsprachigkeit als Teil der europäischen Identität. Andererseits fokussieren sich viele EU-Nationen verstärkt auf Nationalsprachigkeit.

"Es ist eine große Gefahr, wenn sich ethnische und ökonomische Bedürfnisse überschneiden", warnt Alexander. "Diese Überschneidung der Werte müssen Politiker im Prozess der europäischen Sprachenpolitik verhindern."
Mehrsprachigkeit bewahrt Identität
Die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität bremse den Prozess hin zu einer multikulturellen, multilingualen Gemeinschaft.

"Es ist ein großes Missverständnis der Gesellschaft, dass man durch eine Vielfalt an Sprachen die eigene Identität verliert", resümiert Sasalatti. "Ganz im Gegenteil heißt Mehrsprachigkeit, Identität zu bewahren."

Eva-Maria Gruber, science.ORF.at, 13.6.08
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Neville Alexander
Professor für Literaturwissenschaft und Direktor der Bildungsinstitution PRAESA - Project fort he Study of Alternativ Education in South Africa. Alexander hat an der Universität Cape Town und an der Universität Tübingen studiert. Als Gegner des Apartheid-Regimes wird er 1963 verhaftet und zehn Jahre auf Robben Island interniert. Dort entwickelt er gemeinsam mit Nelson Mandela unter anderem Konzepte für eine künftige, anti-rassistische Regierung Südafrikas und einen gewaltfreien Machtwechsel.
->   PRAESA
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Shrishail Sasalatti
Professor für Germanistische Linguistik, Fremdsprachendidaktik und Interkulturelle Kommunikation am Centre of German Studies an der Jawaharlal Nehru Universität New-Delhi. Er ist u.a. Fellow von der Heinrich-Herz Stiftung von NRW Deutschland, DAAD und ÖAD.
->   Centre of German Studies
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->   Alle Beiträge der Serie "Sprechen Sie Wissenschaft"
 
 
 
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01.01.2010