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Young Science: Materie und Antimaterie, Teil 2  
  Teilchen und Antiteilchen bestimmen das Schicksal des Universums von Anbeginn. Dem Verhältnis der beiden und der daraus resultierenden Frage "Wieso ist unsere Welt beim Urknall nicht gleich wieder verschwunden?" ging der Physiker Manfred Jeitler im ersten Teil seines Gastbeitrags für science.ORF.at nach. Teil zwei in der Reihe "Young Science" widmet sich der verletzten Symmetrie der Elementarteilchen und beweist, dass unsere Existenz nicht mit den Gesetzen der Physik im Widerspruch steht. Oder zumindest nicht ganz.  
Wir sind die Mauerblümchen!
Von Manfred Jeitler

Wenn es also tatsächlich im Weltall keine nennenswerten Mengen von Antimaterie gibt, so müssen die Physiker sich wohl einen Mechanismus überlegen, der aus der anfänglichen Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie - der Tatsache, dass es von beiden gleich viel gab - eine gewisse Asymmetrie geschaffen hat. Dabei kann man sich durchaus vorstellen, dass diese Asymmetrie nicht sehr ausgeprägt ist. Es gibt im Weltall so viel Strahlung, dass wir uns vorstellen können, dass der Großteil der ursprünglich vorhandenen Materie mit der gesamten Antimaterie zerstrahlt ist - ein kleines bisschen Materie ist aber übergeblieben!

Wir und unsere Planeten und Sonnen führen also so eine Art Mauerblümchendasein wie die Mädchen (oder Burschen), die in der Tanzschule keinen Partner gefunden haben, weil eben einfach ein paar Mädchen zu viel (oder zu wenig) da sind. In der Tanzschule ist das vielleicht etwas traurig, für uns ist es aber eher ein Grund zur Freude: wir würden ja sonst nicht im Walzertakt über das Parkett gleiten, sondern nur als Lichtquanten durchs Weltall hetzen und damit zwar ein recht flottes, aber doch eher eintöniges Dasein fristen.
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Materie und Antimaterie, Teil 1
Unter dem Titel "Wieso ist unsere Welt beim Urknall nicht gleich wieder verschwunden?" erhellte Manfred Jeitler im ersten Teil der Geschichte Grundzüge und Wissenschaftsgeschichte von Teilchen und Antiteilchen.
->   Materie und Antimaterie, Teil 1
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Andrej Sakharov: "CP-Verletzung"
Wie sieht es aber nun mit diesem geheimnisvollen Mechanismus aus, der eine zwar kleine, aber doch merkliche Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie schaffen soll? Gibt es da schon irgendwelche Ideen, oder ist das alles einstweilen nur hochtheoretische Spekulation?

Keineswegs: es gibt konkrete Ideen. Das Zauberwort lautet "CP-Verletzung". (Das ist schon richtig geschrieben, niemand will etwa ihren geliebten "PC" zertrümmern.) Die Idee, den Überschuss von Materie über Antimaterie im Weltall mit der CP-Verletzung zu erklären, stammt von dem russischen Physiker Andrej Sakharov.

Der älteren Generation ist dieser Name vielleicht auch deshalb vertraut, weil Sakharov einer der prominentesten Dissidenten in der Sowjetunion war - nachdem er vorher die sowjetische Version der Wasserstoffbombe geschaffen hatte. Um aber zu erklären, was es mit dieser "CP-Verletzung" denn auf sich habe, muss man etwas weiter ausholen.
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Symmetrie in der Anatomie
Eine grundlegende Rolle bei den Überlegungen der modernen Physik spielen verschiedene Symmetrien. Symmetrie ist uns allen ein Begriff. Menschen sind rechts-links-symmetrisch, wir haben auf jeder Seite je ein Ohr, ein Auge, einen Arm und so weiter. Der anatomisch Interessierte weiß jedoch, dass diese Symmetrie nicht durchgehend gilt: schneidet man einen Menschen auf, so sieht man, dass die linke Herzhälfte größer als die rechte ist, die Anzahl der Lungenlappen rechts und links unterscheidet sich, und so weiter. Die Symmetrie ist also eindeutig vorhanden, ist aber bei näherem Hinsehen in mancher Hinsicht verletzt.
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Symmetrie der Elementarteilchen
Bei Elementarteilchen, die man sich naiv wohl am ehesten als kleine glatte Kügelchen vorstellt, würde man wohl einen hohen Grad an Symmetrie erwarten. Tatsächlich hat man festgestellt, dass die meisten Prozesse unter Spiegelung symmetrisch sind.

Man sagt, die "Parität" (abgekürzt P) sei erhalten. Zeichnet man also den spiegelbildlichen Vorgang auf, so erhält man meist einen Vorgang, der in der Natur mit derselben Wahrscheinlichkeit auftritt. Wohlgemerkt: meist! Es gibt nämlich eine Klasse von Vorgängen, die der sogenannten "Schwachen Wechselwirkung", bei denen das keineswegs der Fall ist!

Eine andere Symmetrie bei Elementarteilchen ist eine, die wir in unserer "makroskopischen" Welt aus gutem Grunde nicht kennen: die unter Austausch von Teilchen und Antiteilchen (genannt C-Symmetrie, vom englischen "Charge" für Ladung). Makroskopisch gesprochen: ein Anti-Hund bellt genauso wie ein Hund. Aber gottseidank laufen wir ja nicht Gefahr, beim Rollschuhlaufen von Anti-Hunden gebissen zu werden. Tatsächlich erhalten wir aber bei Elementarteilchen wieder für die meisten Prozesse dieselben Wahrscheinlichkeiten, wenn wir ein jedes Teilchen durch sein Antiteilchen ersetzen. Und wiederum gibt es hier eine Ausnahme: wieder ist das schwarze Schaf die "Schwache Wechselwirkung", bei der das nicht der Fall ist.
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Eine sehr schöne und detailliertere Erklärung dieser Fragen finden Sie übrigens in dem ausgezeichneten science.ORF.at-Artikel über die Bedeutung der Symmetrien für die Physik von Laurenz Widhalm.
->   Symmetrien: Ordnungsmuster in der Natur
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Verletzung der CP-Symmetrie
Als man die Verletzung der P- und der C-Symmetrie bemerkt hat (die Verletzung der Parität in der Schwachen Wechselwirkung wurde in einem von der Nobelpreisträgerin C.S. Wu 1957 durchgeführten Experiment eindeutig bewiesen), war das ein schwerer Schlag für viele Physiker, die durch vorhandene Symmetrien auf ein einfaches Modell der Natur hofften.

Ein kleiner Trost war dabei, dass wenigstens die kombinierte CP-Symmetrie erhalten schien: vertauscht man Teilchen mit Antiteilchen und spiegelt gleichzeitig das Geschehen, so laufen auch alle Vorgänge der "Schwachen Wechselwirkung" wieder mit genau denselben Wahrscheinlichkeiten ab.

Wirklich alle? Nein! Es gibt Ausnahmen: beim Zerfall der so genannten "neutralen Kaonen" und "neutralen B-Mesonen" (zweier Arten von Elementarteilchen) ist auch die kombinierte CP-Symmetrie verletzt, wie erstmals 1964 experimentell für den Fall der Kaonen festgestellt wurde. (Der Nachweis für die neutralen B-Mesonen wurde erst letztes Jahr gebracht.) Das hat zwar so manche Physiker in ihrem ästhetischen Empfinden gestört, andererseits konnte aber, wie bereits erwähnt, Sakharov gerade auf diesem Sachverhalt aufbauend eine erste Theorie entwickeln, mit deren Hilfe das Überwiegen der Materie über die Antimaterie erklärt werden kann.

 


Neutrinos drehen sich, in Flugrichtung betrachtet, immer nach links. Ihre Antiteilchen, die Antineutrinos, drehen sich dagegen stets nach rechts. Durch Spiegelung eines Neutrinos (Transformation "P") würde man ein rechtsdrehendes Neutrino erhalten (das es nicht gibt). Ersetzt man dieses nun aber zusätzlich durch ein Antineutrino (Transformation "C") erhält man ein rechtsdrehendes Antineutrino. Beide Transformationen hintereinander ausgeführt (kurz als CP-Transformation bezeichnet) ergeben also wieder einen existierenden Zustand.
Ist damit nun alles geklärt?
Bild: CERN
In dieser unterirdischen Halle ist das Experiment NA48 am CERN aufgebaut, das die CP-Verletzung im Kaonsystem untersucht.
Haben wir bereits die endgültige Bestätigung dafür, dass unsere Existenz nicht mit den Gesetzen der Physik im Widerspruch steht? Nicht ganz. Die bis jetzt gemessenen Effekte der CP-Verletzung reichen noch nicht aus, das Verhältnis von Materie und Antimaterie zu erklären, und sowohl Experiment wie auch Theorie haben noch so manche Arbeit zu leisten, bis alles richtig verstanden sein wird.

So arbeitet auch das Institut für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bei Experimenten am CERN in Genf sowie am KEK in Japan mit, um den genauen Mechanismus der CP-Verletzung besser verstehen zu lernen (in Genf werden die oben erwähnten Kaonen, in Japan die B-Mesonen untersucht).

Aber die Ansätze sind vielversprechend, und so können wir mit Recht hoffen, dass wir eines Tages unsere Existenz und die Existenz der Welt nicht nur einfach als offensichtlich hinnehmen werden müssen, sondern auch wirklich verstehen werden.

Reproduktion der Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des CERN.
->   NA48, CERN in Genf
->   BELLE-Detektor am KEK in Japan
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Manfred Jeitler, Institut für Hochenergiephysik der ÖAW
Mitarbeiter am Experiment: NA48, CERN (Genf)
->   Institut für Hochenergiephysik
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Young Science in science.ORF.at:
->   Zellulärer Transportmechanismus
->   Jesuitenarchitektur in Italien 1540 - 1773
->   Auf der Spur neuer Antibiotika
->   Neue Einblicke in das menschliche Gehirn
->   Kein "Zwutschkerl": Bairische Mundarten in Österreich
->   Spurensuche nach slawischen Wurzeln
->   Giftigen Blaualgen in Österreichs Seen auf der Spur
->   Young Science auf der Homepage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
 
 
 
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01.01.2010