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Europas "Ursprache" entstand in Anatolien  
  Dass Sprachen wie Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und gar das in Indien verbreitete Urdu einst aus einer gemeinsamen "Ursprache" entstanden sind, weiß die Wissenschaft längst. Umstritten ist bisher allerdings noch die Frage, wann und wo sich jene Urform - genannt Indoeuropäisch - auszubreiten begann. Zwei neuseeländische Forscher geben nun einer Theorie Recht, die den Beginn vor rund 8.000 Jahren im heutigen Anatolien lokalisiert und datiert.  
Für Sprachen und Sprachfamilien gibt es - ähnlich wie bei biologischen Verwandtschaftsverhältnissen, die sich beispielsweise in den Genen ablesen lassen - Stammbäume.

Die Wissenschaftler Russel Gray und Quentin Atkinson von der University of Auckland haben daher einen gewissermaßen nahe liegenden Ansatz aufgegriffen: Sie verwendeten computergestützte Methoden der Evolutionsbiologie, um die Entstehung des Indoeuropäischen zu untersuchen.
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Der Artikel "Language-tree divergence times support the Anatolian theory of Indo-European origin" von Russel D. Gray und Quentin D. Atkinson ist erschienen in "Nature" (Bd. 426, Seiten 435-439, 27. November 2003).
->   Abstract der Studie in "Nature"
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Sprachen und Gene als "Geschichtsbücher"
"Sprachen liefern - ähnlich wie Gene - entscheidende Hinweise über die menschliche Geschichte", schreiben die beiden Forscher in "Nature".

Geht es aber um Sprachen, so stand gerade die indoeuropäische bzw. indogermanische Sprachfamilie immer wieder im Blickpunkt der Wissenschaft. Immerhin werden die heute lebenden Sprachen, die zu dieser Gruppe gehören, von mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit gesprochen.
->   Mehr Informationen dazu in www.kontrastivlinguistik.de
Strittige Frage: Das Wann und Wo
Die Reihe der zum Indoeuropäischen zählenden Sprachen ist bekannt. Es gibt allerdings konkurrierende Theorien zur Frage, wann und wo jenes "Ur-Indoeuropäisch" entstanden ist bzw. sich zu verbreiten begann - zwei jener Lösungsansätze haben sich Gray und Atkinson nun mit Hilfe modernster Methoden näher angesehen:

Nach der Theorie der "Kurgan-Expansion" entstand die Ursprache der Europäer einst bei dem Nomadenvolk der Kurganen im westlichen Ural. Ihre Reiter, so die These, brachten vor rund 6.000 Jahren die Sprache nach Europa und in den mittleren Osten - und legten so den Grundstock für ihre heutige Verbreitung.

Demgegenüber steht die These, jene "Mutter aller europäischen Sprachen" sei einst auf dem Gebiet der heutigen Türkei entstanden - anatolische Bauern hätten demnach die ersten indoeuropäischen Worte gesprochen. Vor 8.000 bis 9.500 Jahren hätte sich die Sprache schließlich - gemeinsam mit dem Ackerbau - verbreitet.
Vergleichsanalysen sollen Aufschluss geben
Sprachgeschichtsforscher versuchen nun meist, durch diverse vergleichende Methoden einen Stammbaum ihrer Untersuchungsobjekte zu erstellen. Basis sind verschiedenste lexikalische, morphologische und phonologische Daten.

Damit erhält man zwar eine relative Chronologie, sagen Gray und Atkinson - doch absolute Schätzungen über den Zeitpunkt werden nicht geliefert. Die beiden Forscher griffen also auf einen mittlerweile schon älteren Zweig der Linguistik zurück, die Glottochronologie.
Je mehr gemeinsam, desto "jünger" die Trennung
Dabei werden ebenfalls sorgsam ausgewählte "Basiswörter" verschiedener Sprachen verglichen: Je mehr Wortübereinstimmungen sich finden, desto näher sind die Sprachen miteinander verwandt.

So weit klingt die Sache nicht besonders aufregend. Doch die Glottochronologie dringt tiefer: Sie geht davon aus, dass je nach prozentualer Menge an gemeinsamem Basiswortschatz die untersuchten Sprachen sich vor längerer oder weniger langer Zeit voneinander abspalteten.

Da wiederum bei bestimmten Sprachen der Beginn der separaten Entwicklung bekannt ist, hat man einen Bezugspunkt, von dem ausgehend man seine Tabelle quasi "kalibrieren" kann. Also etwa: Bei 85 Prozent gemeinsamem Basiswortschatz liegt die Trennung rund 1.000 Jahre zurück.
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Gleiches Prinzip bei der "molekularen Uhr" der Biologie
Diese Vorgangsweise mag so manchem bekannt vorkommen - denn tatsächlich ist das evolutionsbiologische Konzept einer "molekularen Uhr" zwar jünger, es funktioniert aber nach dem gleichen Prinzip:

Hier werden Veränderungen im Erbgut zweier Arten untersucht - je größer die Unterschiede in einer DNA-Sequenz, desto länger liegt die Trennung (von einem gemeinsamen Vorfahren ausgehend) zurück. Kalibriert wird diese Uhr etwa über zwei Spezies, bei denen der Zeitpunkt der Trennung anhand von Fossilienfunden abgeschätzt werden kann. Die Forscher gehen dabei davon aus, dass die Mutationen in regelmäßigen Abständen erfolgen, und können so ähnliche Aussagen auch über andere Arten treffen.
->   Mehr Informationen zur "molekularen Uhr" (Brunel University)
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Evolutionsbiologische Modelle für Sprachgeschichte
Die beiden neuseeländischen Forscher griffen nun auf statistische Methoden und Computerberechnungsmodelle zurück, die heute vor allem in der Evolutionsbiologie zur Anwendung kommen.

Ihre Ergebnisse aus der Untersuchung von 87 verschiedenen Sprachen sind eindeutig: Die lange Zeit sehr prominente Theorie der "Kurganen-Expansion" vor rund 6.000 Jahren wird widerlegt, denn laut Studie begann die Verbreitung der indogermanischen Ursprache weit früher, vor 9.800 bis 7.800 Jahren.
Mit dem Ackerbau kam die Sprache
Und das wiederum passt sehr viel besser zum zweiten Ansatz. Demzufolge waren anatolische Bauern wohl die ersten Menschen, die jene immer noch geheimnisvolle Ursprache verwendeten.

Gemeinsam mit dem Ackerbau verbreitete sich das Indoeuropäische nach und nach - zunächst in Europa und Teilen Südasiens - und leitete so einen beispiellosen Siegeszug ein: Heute sprechen mehr als zwei Milliarden Menschen weltweit eine der vielen Sprache, die darauf zurückgeht.

Archäologische Funde unterstützen im Übrigen jene Ergebnisse, wie die Forscher in ihrem Artikel anmerken. Radiokarbon-Messungen hätten etwa ergeben, dass der Ackerbau Griechenland vor etwa 8.000 Jahren erreichte. In Schottland sind demnach 5.500 Jahre alte Fundstätten bekannt.
Vernetzung von Daten als "Schritt nach vorne"
"Phylogenetische Methoden haben die Evolutionsbiologie in den vergangenen 20 Jahren revolutioniert", heißt es schließlich in "Nature". Nun seien sie dabei, auch in anderen Bereichen Fuß zu fassen. Gray und Atkinson sind jedenfalls davon überzeugt, dass ihr Ansatz ein Schritt in die richtige Richtung ist:

"Die Aufgabe, präzise Schlüsse über die menschliche Geschichte zu ziehen, ist überaus anspruchsvoll", schreiben sie. Und dazu sei "die Vernetzung von archäologischen, genetischen, kulturellen und linguistischen Daten" notwendig.

"Die Kombination von computergestützten Methoden der Phylogenetik (Stammesgeschichte, Anm.) und lexikalischen Daten zur Untersuchung archäologischer Hypothesen ist ein Schritt nach vorne bei dieser schwierigen und faszinierenden Aufgabe."

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Department of Psychology der University of Auckland
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01.01.2010