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Wir nutzen unser gesamtes Gehirn  
  Das menschliche Gehirn ist ein hochkomplexes Organ. Ob es zur Gänze genutzt wird, um seine zahlreichen Aufgaben zu bewältigen, war die aktuelle Frage von "Ask Your Scientist". Die Antwort der Experten: Unser Gehirn ist komplett ausgelastet - aber nicht immer alle Regionen zugleich und spezifisch je nach den Anforderungen.  
Die Ansicht, dass wir Menschen unser Gehirn nur "teilweise" nutzen, ist und bleibt eine Behauptung, die sich weder auf neurobiologische noch psychologische Fakten stützt.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
mrquantum: Warum nutzen wir eigentlich immer nur einen Teil unseres Gehirns? Ich habe gehört, dass es rund 30 Prozent sind. Stimmt das? Und wenn ja - warum?
->   Zur Frage der Woche samt User-Forum
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"Sagen und Legenden"
Die oftmals geschürten Gerüchte, dass bis zu 90 Prozent unseres Gehirns ungenutzt bleiben und diese "stillen Reserven" aktiviert werden könnten, kämen eher von "Leuten, die etwas verkaufen wollen", vermutet Günter Schulter vom Institut für Psychologie an der Universität Graz.

Ob die Überlebensfähigkeit solcher überholten Thesen auf Grund falsch interpretierter, ironischer Einstein-Zitate zustande kommt oder diese wissenschaftliche Relikte aus den 1930er Jahren sind, ändert nichts an den neuro-biologischen Erkenntnissen der letzten 15 Jahre. Die sprechen nämlich eine andere Sprache.
Die "schlechte" Nachricht
Dass nicht in jedem von uns ein Vollblutmusiker oder gar ein Nobelpreisträger steckt, wird jedermann tagtäglich vor Augen geführt. Bleiben aber deshalb gleich bei den meisten oder gar bei allen Menschen große Teile des Gehirns untätig, die wir vielleicht sogar anzapfen könnten? Mit Sicherheit Nein.
Nicht alle Teile zur gleichen Zeit aktiv
Vielmehr steht fest, dass die verschiedenen Bereiche des menschlichen Gehirns nicht immer
aktiv sind, weil sie das gar nicht müssen. Genauso wie nicht alle Muskeln im menschlichen Körper gleichzeitig im Einsatz sind, werden erst bei Bedarf die benötigten Bereiche des Gehirns sinnvoll eingesetzt.

So ist beispielsweise das Kleinhirn für die sensomotorische Koordination zuständig, das Großhirn respektive die Großhirnrinde als phylogenetisch jüngster, aber auch größter Teil hingegen zeichnet für höhere psychische Prozesse wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Lernen, Denken oder Sprache verantwortlich.
Der "silent cortex"
Karl Lashley hat ab 1929 erfolglos nach dem hypothetischen einzigen Ort im Gehirn gesucht, an dem er zum Beispiel sehr spezifisch alles Gedächtnis vermutete. Damals in den 1930er Jahren, als die Hirnforschung in ihren Anfängen steckte, wurde der Begriff des "silent cortex" geprägt.

Er beruht auf der Beobachtungen Lashleys, dass mittels minimaler Elektroschocks bei Versuchstieren und Freiwilligen sichtbare Folgen wie das Zucken eines Fußes hervorzurufen sind. Bei der Stimulation anderer Hirnregionen hingegen regte sich nichts.

Inaktiv oder gar nutzlos sind diese "ruhigen" Teile des Gehirns deswegen keineswegs, da sie für andere wichtige Aufgaben wie Sprache, Logik oder Emotionen zuständig sind.
Komplexer als eine Computerfestplatte
Hans Lassmann, Vorstand des Instituts für Hirnforschung der Uni Wien, bringt es auf den Punkt: "Man kann das menschliche Gehirn nicht mit einer fragmentierten Festplatte eines Computers vergleichen, da die einzelnen Hirnbereiche stark miteinander vernetzt sind."

Jede Zelle der Hirnrinde ist mit jeder anderen direkt oder indirekt assoziiert, jedoch unter Einhaltung der Grundstruktur der kortikalen Systeme. Somit laufen die verschiedenen Prozesse in weiten Bereichen des Gehirns verteilt und miteinander vernetzt ab.

Die menschliche Gehirnaktivität ist nicht nur auf einzelne Teile beschränkt, sondern passt sich darüber hinaus ein Leben lang dynamisch an die individuellen Anforderungen jedes einzelnen Menschen an.
Neurologische Statistik macht Mut
So ist das menschliche Gehirn zwar nicht beliebig erweiterbar - wie etwa eine Computerfestplatte - jedoch ist die Speicherkapazität durch rege geistige Aktivität ausbaubar.

Genauso wie sie durch dementsprechende Inaktivität "verkümmern" kann. Daher gilt gerade beim menschlichen Gehirn "Übung macht den Meister".

Wenn man bedenkt, dass jedem Menschen mindestens 15 Milliarden Gehirnzellen als Grundlage zur Verfügung stehen, so kann durch die verschiedenen Verbindungsmöglichkeiten eine derart große Menge an Informationen gespeichert werden, die jenseits unseres Vorstellungsvermögens liegt.

Motivation genug also für jeden Menschen, geistig aktiv zu bleiben und seine neurobiologischen Voraussetzungen optimal auszubauen.
"Durch Üben kann sich jeder verbessern"
Wer es schafft möglichst viele Schnittstellen aufzubauen und sein synaptisches Netzwerk zu einer immer differenzierteren Dendritenstruktur auszubauen, verbessert seine intellektuellen Fähigkeiten.

Nur durch hohe neuronale Aktivität wird sichergestellt, dass neue Gehirnmuster und Strukturen gebildet werden, sodass die Denk- und Gedächtnisleistung nicht nur behalten, sondern selbst im Alter noch gesteigert werden kann.

Mit einfacheren Worten: Interindividuelle genetische Unterschiede wird es immer geben und können auch nicht aufgehoben werden, das ändert aber für Günter Schulter (Universität Graz) nichts an der Tatsache, dass "jeder Mensch seine Gehirnzellen voll auslastet und vor allem geistig trainierbar ist".
Jedes Gehirn ist voll ausgelastet
Wissenschaftler stellen also klar: Das menschliche Gehirn wird von jedem von uns zu 100 Prozent ausgelastet, nur nicht immer in allen Bereichen gleichzeitig und anforderungsspezifisch.

Den geistigen Output hingegen, den wir Menschen dann in verschiedenen Formen wie Intelligenzquotient, Wissen, Logik, Sprachbegabung, Kombinationsvermögen usw. bewerten, den steuert jeder Mensch selber im Rahmen seiner genetischen Voraussetzungen.

Christoph Urbanek
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