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Weibliche Schiffsnamen: Schutz und Sicherheit  
  Dass Schiffe einen weiblichen Artikel tragen, gleichgültig welchen Geschlechts ihr Name ist, hat eine lange Tradition. Warum das so ist, kann nicht umfassend beantwortet werden. Sehr wahrscheinlich ist, dass die weiblichen Schiffsnamen Glück bringen und ein Gefühl des Schutzes vermitteln sollten. Und: Im deutschen Sprachraum handelt es sich um ein vergleichsweise junges Phänomen.  
Die aktuelle "Ask Your Scientist"-Frage erwies sich auch für die Experten als knifflig - und führte zu unterschiedlichen Antworten.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
Siegfried K.: Warum sind alle Schiffe "weiblich"? Man sagt "das" Schiff, aber sobald ein Schiff einen Namen hat, ist es immer "die" Titanic", "die King George V", "die Bismark", "die Enterprise" etc. Gibt es dafür einen Grund oder handelt es sich dabei lediglich um eine Eigenheit der deutschen Sprache!
->   Zur Frage der Woche samt User-Forum
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Traditioneller Aberglaube: Vom antiken Ägypten ...
Für einen Seemann haben Schiffe schon seit jeher nicht nur Charakter, sondern sie stellen für ihn eine Persönlichkeit dar, die vor allem mit der Namensgebung entsteht. Dass die Anfänge der Schifffahrt mit lebensbedrohlichen Risiken verbunden waren, erklärt wohl am besten, dass die frühesten Schiffsnamen von Göttern stammten, deren Schutz erhofft wurde.

Bereits die alten Griechen und Römer sahen in der Antike ihre Schiffe als weiblich an. Der Autor eines englischen Wörterbuchs der Schiffsausdrücke, John Rousmaniere - auf den User "sapprogrammierer" hingewiesen hat -, erklärt dies sogar mit dem altägyptischen Glauben, wonach Schiffe Glück bringende weibliche Wesen darstellten.
... bis ins Mittelalter
Auch im Mittelalter folgten die Seefahrer dieser Tradition und wählten viele Schiffsnamen von weiblichen Heiligen wie zum Beispiel die "Santa Maria" des Christoph Kolumbus. Aber diese historischen Tatsachen alleine sind nicht Grund genug für die Verwendung femininer Schiffsartikel - unabhängig vom Geschlecht des eigentlichen Namens.
Im deutschen Sprachraum späteres Phänomen
Gesichert ist, dass die englische Navy bereits seit Jahrhunderten ihre Schiffe mit weiblichen Artikeln bezeichnet. Im deutschen Sprachraum hingegen war dies nicht immer so. Im Jahr 1462 sprach man von "dem Peter von Danzig" und um die vorletzte Jahrhundertwende war es noch üblich von "dem Bismarck" zu reden.

Die Tradition der femininen Schiffsartikel wurde erst relativ spät durch Kaiser Wilhelm II. um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vom englischen Sprachgebrauch übernommen.
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"Der Dampfer Großer Kurfürst"
Erik Hoops vom Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven weiß zu berichten, dass man davor "Schiffe mit dem Geschlecht ihres jeweiligen Namens bezeichnete wie z. B. 'Der große Kurfürst'. Heute rettet man sich vor der Bezeichnung 'Die große Kurfürst' im Normalfall, indem man den Schiffstyp voranstellt, also 'Der Dampfer großer Kurfürst'."
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Seemannsgarn: Einsamkeit und Verlässlichkeit
Erklärungsversuche, wonach die Einsamkeit der Seemänner auf ihren langen Reisen oder gar die nicht immer optimalen Segeleigenschaften der Schiffe verantwortlich sind für die Weiblichkeit im Namensgebrauch, wird allerorts getrost als Seemannsgarn abgetan.

Auch gegenteilige Behauptungen, denen zufolge Frauen viel verlässlicher seien als Männer, gehen wohl auch weit an einem seriösen Erklärungsziel vorbei.
Vom sächlichen zum weiblichen Artikel
Fundierter werden die Antworten, wenn sich Sprachwissenschaftler zu diesem Thema äußern, auch wenn es für sie keine allumfassende Antwort zum Gebrauch weiblicher Artikel vor Schiffsnamen gibt.

Das englische Wort "ship" wird sowohl seit dem altenglischen Sprachgebrauch als auch im Indogermanischen seit jeher als Neutrum geführt.

"Dennoch ist und bleibt die Artikelfrage ein sprachliches Phänomen und ist sozialen Einflüssen über die Jahrhunderte unterworfen" erklärt Sprachwissenschaftler Stefan Dollinger vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien, die Abwandlung vom ursprünglich sächlichen zum weiblichen Artikel.
Beschützende Schiffe: "Prototypische Semantik"
Dass Schiffe aber unbewusst etwas Beschützendes in ihren Grundassoziationen seit Beginn der Schifffahrt hervorrufen, ist eine äußerst menschliche Eigenschaft und aus der jahrhundertelangen, gefährlichen Schiffahrtsgeschichte heraus zu verstehen.

Franz Patocka vom Institut für Germanistik führt gerade die weiblichen Artikel vor Schiffsnamen als Beispiel "prototypischer Semantik" an. "Die Assoziation von Schiffen mit Gefäßen, die beschützen und beherbergen, führt seit Menschengedenken zur typischen Vorstellung von etwas Weiblichen."

Diese Archetypenidee der Weiblichkeit von Schiffen liegt - gleichgültig ob im Englischen oder Deutschen - für viele Experten dem Gebrauch femininer Artikel vor Schiffsnamen zugrunde.
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Literaturtipps:
Rousmaniere, J. & Smith, J: The Annapolis Book of Seamanship, Simon & Schuster, 1999
Aitchinson, J.: Words in the mind. An introduction to the mental lexicon, Oxford: Basil Blackwell, 1987
Taylor, J.R.: Linguistic Categorization. Prototypes in Linguistic Theory, Oxford: Clarendon Press, 1989
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"Unsere Schiffe bleiben weiblich"
Wie unterschiedlich die Erklärungen auch seien mögen, an der "Weiblichkeit" der Schiffe darf unter Seefahrern anscheinend nicht gerüttelt werden. Selbst die altehrwürdige "Lloyd's List", eine seit 1734 in London erscheinende Publikation der Schiffsindustrie, gab im März 2002 bekannt, Schiffe nur noch als Neutren zu bezeichnen.

Ein Schiff sei ein Wirtschaftsgut, es habe keinen Charakter und sei weder männlich noch weiblich. Proteststürme aus aller Welt waren die Folge, bis hin zur britischen Marine, die unmissverständlich festhielt: "Unsere Schiffe bleiben weiblich."

Christoph Urbanek
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