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Homo sapiens: Evolutionäre Endstation nicht in Sicht  
  Das Leben des Menschen unter Zivilisationsbedingungen hat die Wirkung der natürlichen Selektion zwar in mancher Hinsicht abgeschwächt - völlig außer Kraft gesetzt wurde sie jedoch nicht. Daher ist auch in Bezug auf die naturgeschichtliche Entwicklung von Homo sapiens kein Endpunkt erreicht.  
In welche Richtung sich unsere Art entwickeln wird, ist indes schwierig zu prognostizieren. Daten aus den letzten 100.000 Jahren legen jedenfalls nahe, dass weder unser Gehirnvolumen zunehmen wird noch sich unsere kognitive Fähigkeiten verbessern werden.
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Die aktuelle Frage im Wortlaut
Florian S..: "Seit es Leben gibt, gibt es auch Evolution. Heute kann man jedoch nicht mehr sagen, dass es (zumindest in der westlichen Welt) noch eine Auslese gibt. Kann man daher auch das erste Mal in der Geschichte davon sprechen, dass es so etwas wie Evolution nicht mehr gibt? Werden sich die Menschen nicht mehr weiterentwickeln?"
->   Zur aktuellen Frage samt User-Forum
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Frage seit Darwins Zeiten virulent
Bereits zu Darwins Zeiten wurde kontrovers diskutiert, ob sich der Mensch unter den Bedingungen der Zivilisation von der natürlichen Selektion emanzipiert hat - oder nicht.

"Die natürliche Auslese gilt seit Darwin als wichtigste Triebkraft des evolutiven Wandels der Organismen. Sie wirkt uneingeschränkt auch in der Evolution unserer eigenen Gattung", so der Wiener Wissenschaftsphilosoph Franz Wuketits im Gespräch mit science.ORF.at.
Was ist Selektion?
"Unter Selektion beziehungsweise Auslese im biologischen Sinn versteht man den unterschiedlichen Reproduktionserfolg einzelner Genotypen - die so genannte Fitness" erklärt Thomas Junker, Biologe an der Universität Tübingen.

Dieser Reproduktionserfolg setzte ihm zufolge sowohl die Überlebensfähigkeit - beispielsweise die Resistenz gegenüber Krankheiten oder etwa die Fähigkeit, Nahrung zu beschaffen -, als auch die erfolgreiche Suche nach einem Reproduktionspartner - die so genannte sexuelle Selektion - voraus.
Selektion durch Zivilisation abgeschwächt ...
Die natürliche Auslese hat sich nun unter den Bedingungen der heutigen Zivilisation zumindest in Bezug auf leichtere körperliche Mängel stark abgeschwächt. "Zum Beispiel wird schlechtere Sehfähigkeit durch Brillen korrigiert und hat wohl weder für das Überleben noch bei der Suche nach einem Reproduktionspartner Auswirkungen", so der Tübinger Biologe.

"Andererseits gibt es natürlich immer noch schwerwiegende Erbkrankheiten, die zum Absterben des Embryonen im Mutterleib führen oder eine erfolgreiche Reproduktion verhindern. Insofern gibt es immer noch ein nicht unerhebliches Maß an natürlicher Auslese", meint Thomas Junker gegenüber science.ORF.at.
... aber auf keinen Fall ausgeschaltet
Franz Wuketits geht sogar weiter und meint, dass die neuen Lebensbedingungen, die sich der Mensch geschaffen hat, die Selektion keineswegs ausschalten. Ihm zufolge bieten sie vielmehr der natürlichen Auslese sozusagen eine neue Angriffsfläche, wie vor allem die so genannten Zivilisationskrankheiten zeigen würden.

Der Innsbrucker Biologe Reinhard Rieger nimmt in diesem Zusammenhang eine Präzisierung vor: "Das Kernstück der Darwinschen Selektionstheorie war und ist nicht 'die Stärksten überleben ...'. Es besagt vielmehr, dass die Zahl der fortpflanzungsfähigen Nachkommen den Erfolg in der Selektion bestimmt."
Weiterentwicklung: Keine weitere Gehirnvergrößerung
"Bei der Frage nach der Weiterentwicklung vom modernen Menschen muss man aber auch seine Ursprünge bei seinen affenähnlichen Vorfahren berücksichtigen und zum Beispiel die Vergrößerung der geistigen Fähigkeiten - gemessen am Gehirnvolumen - im Laufe der Evolution betrachten", so Thomas Junker über die Entwicklung bei uns Menschen.

"Interessanterweise ist es in den letzten mindestens 100.000 Jahren bei Menschen nicht zu einer weiteren Gehirnvergrößerung gekommen. Das könnte darauf hindeuten, dass zwischen kognitiven Fähigkeiten und Reproduktionserfolg, bestimmt durch Selektion, bei Menschen schon länger keine positive Korrelation mehr besteht", vermutet der Tübinger Biologe weiter.
"Übermenschen" nicht in Sicht
"Auch unter den modernen Bedingungen scheint es kaum eine Selektion in Richtung der kognitiven Fähigkeiten - ganz allgemein der 'Intelligenz' - zu geben. Es wurde und wird sogar das Gegenteil behauptet", führt Junkers weiter aus.

Ähnliches erklärt Wissenschaftsphilosoph Wuketits, denn "jeder Versuch, die zukünftige Evolution des Menschen vorauszusagen, bleibt zwar notgedrungen spekulativ, es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass sich Homo sapiens sozusagen zum Übermenschen entwickeln wird."
Schwierige Beweisführung
Der deutsche Biologe Thomas Junker stellt gegenüber science.ORF.at fest, dass die Frage, ob der Mensch in einer evolutionären Sackgasse steckt, nicht mit einem einfachen "Ja" oder "Nein" zu beantworten ist.

"Man müsste einzelne Merkmale ansehen, zunächst ihre Erblichkeit nachweisen und dann zeigen, dass sie mit positivem oder negativem Reproduktionserfolg gekoppelt sind. Es ist klar, dass das bei so komplexen Merkmalen wie Intelligenz oder Schönheit ziemlich schwierig ist", erläutert Junker einen theoretischen Lösungsansatz.
Keine Artenspaltung möglich?
Junker zufolge gebe es daher sicher eine Weiterentwicklung im neutralen Sinne als reine evolutionäre Veränderung, allerdings findet diese sehr langsam statt. Eine Weiterentwicklung im Sinne von Fortschritt (als quantitative oder qualitative Zunahme von positiv bewerteten erblichen Merkmalen) gebe es dagegen eher nicht.

"Dass sich der moderne Mensch in weitere Arten aufspalten werde, ist hingegen praktisch ausgeschlossen, weil er bereits alle ökologischen Nischen, deren Besiedlung eine Artaufspaltung bewirken könnten, besetzt hat", versucht Franz Wuketits eine Vorhersage über die stammesgeschichtliche Weiterentwicklung von Homo sapiens.
"Wo sexuelle Fortpflanzung, da Evolution"
Ein generelles Fazit ganz im Sinne Darwins zieht der Innsbrucker Biologe Reinhard Rieger und teilt damit auch die Meinung einiger User im Diskussionsforum:

"Selektion im Sinne einer größeren Nachkommenschaft einzelner Individuen wird es geben, solange Organismen sich sexuell fortpflanzen, sich daher von Generation zu Generation verändern und sich somit evolutiv weiterentwickeln."

Christoph Urbanek, 3.11.04
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