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Mittelalterliche "Phantomzeit": Fakten sprechen dagegen  
  Der deutsche Buchautor und Privatgelehrte Heribert Illig vertritt eine Theorie, der zufolge es drei Jahrhunderte des Mittelalters gar nicht gegeben habe. Sie sollen vielmehr Produkt einer groß angelegten historischen Fälschung sein. Historiker winken jedoch ab: Die Fakten sprechen gegen die Phantomzeit-Hypothese.  
Wie Experten gegenüber science.ORF.at erklären, stützen sich Illigs Hypothesen zwar auf bereits bekannte Schwachstellen der Geschichtsschreibung, enden allerdings in falschen Interpretationen und Schlussfolgerungen.

Überdies lassen sich auch bei astronomischen bzw. kalendarischen Daten keine Belge für das "erfundene Mittelalter" finden.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
Hubert C..: "Der Historiker Heribert Illig behauptet in seinem Buch 'Das erfundene Mittelalter', dass es drei Jahrhunderte unseres Mittelalters gar nicht gegeben hat. Er leitet seine Phantomzeit-Hypothese u. a. von einer astronomischen Berechnung ab, nämlich der Differenz der Tage zwischen julianischem und gregorianischem Kalender. Ist diese nicht ein zwingender Grund, die Phantomzeit-Hypothese zu akzeptieren - oder ist sie einfach fehlerhaft?"
->   Zur Frage der Woche samt User-Forum
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Kalendarisch-astronomische Tatsachen
Andreas Schwarcz, Historiker und Experte für historische Chronologie und mittelalterliche Geschichte an der Uni Wien, erläutert kurz und bündig die kalendarischen Fakten:

"Erwiesen ist, dass der julianische Kalender 365 Tage und 6 Stunden für ein Jahr annimmt, wo hingegen der gregorianische Kalender 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 46 Sekunden als Grundlage für ein volles Jahr heranzieht. Daraus errechnet sich eine Differenz von etwa einem Tag in 128 Jahren."
Erfundene Epoche lässt sich nicht belegen
Heinz Dopsch, Historiker an der Uni Salzburg, erläutert auf dieser Grundlage die kalendarischen Interpretationen des umstrittenen Privatgelehrten: "Heribert Illig argumentiert, dass Papst Gregor XIII. bei seiner Kalenderreform im Jahre 1582 zehn Tage ausfallen ließ. Da die Abweichung von der tatsächlichen Zeit für jeweils 128 Jahre einen vollen Tag betrug, hätte Papst Gregor nicht 10 sondern 13 Tage ausfallen lassen müssen."

"Allein damit begründet er jetzt seine These von den drei Jahrhunderten, die es gar nicht gegeben habe. Sicher kann man die Frage der Kalenderreform im Detail diskutieren. Eine "erfundene Epoche" lässt sich damit aber weder begründen noch beweisen", so Dopsch.
Bauliche Gegenbeweise zur "erfundenen Epoche" ...
Der Salzburger Historiker setzt solchen Vermutungen handfeste Argumente entgegen: "Den Thesen Illigs zufolge sind ja nicht nur alle Schriftquellen, die in jene Zeit datiert werden, einfach Fälschungen, sondern dasselbe gilt auch für die Bodendenkmäler, die von Archäologen freigelegt wurden.

Allerdings besitzen wir gerade aus jener Epoche, die es angeblich nicht gab, eine Fülle von Quellen, die mit Hilfe moderner Methoden vielfach abgesichert sind. Ich nenne das Beispiel der Salzburger Slawenmission in Pannonien, die gerade in diese nach Illig "erfundene Epoche" fällt."
... etwa die Hadrians-Basilika in Mosapurc
"Von den etwa 30 Missionskirchen, die damals von Salzburger Missionaren und vom slawischen Adel in Pannonien errichtet wurden, sind etliche freigelegt worden. Zuletzt die großartige Hadrians-Basilika in Mosapurc, dem heutigen Zalavár in Westungarn, die offenbar nach dem Vorbild des Salzburger Virgildoms errichtet wurde. Die Datierung konnte mit naturwissenschaftlichen Methoden exakt abgesichert werden", erläutert Dopsch anhand eines konkreten Beispiels.
Kein realistisches Fälschungsszenario
"Nach den Thesen von Herrn Illig müssten spätere Generationen alle diese Bauten nachträglich erschaffen und zugeschüttet haben und gleichzeitig auch die entsprechenden historischen Quellen, die einen früheren zeitlichen Ansatz nahe legen, gefälscht haben. Für ein bloßes Täuschungsmanöver wäre das doch eine überaus aufwändige Angelegenheit", meint Heinz Dopsch zu science.ORF.at.

Seine Gegenargumente hat er Illig auch bereits persönlich unterbreitet: Er führte vor einigen Jahren mit Heribert Illig eine öffentliche Diskussion.
Zuviel "Manpower" und Material nötig
In die gleiche Richtung geht die Argumentation des Wiener Historikers Karl Brunner, Direktor des Instituts für österreichische Geschichtsforschung und Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Uni Wien:

"Illig stellt sich vor, dass in der Stauferzeit (12. Jahrhundert) die Geschichtsschreibung gefälscht wurde, um eine größere historische Wichtigkeit zu erlangen. Allerdings wäre sowohl zuviel 'Manpower' als auch ein damals nicht bewältigbarer Materialaufwand nötig gewesen, um eine solche groß angelegte Fälschungsarbeit zu bewerkstelligen."
Wichtige Knackpunkte bleiben ungeklärt
"Bei all den Bemühungen von Herrn Illig ist vor allem nicht klar, wie dendrochronologische Reihen oder auch DNA-Analysen gefälscht werden könnten", so Historiker Dopsch abschließend in seinem Statement für die User von science.ORF.at.

"Illigs Theorien funktionieren außerdem nur in einem Europazentrismus. Weltweit hingegen gesehen passen sie nicht in die Geschichte, denn sonst gerät man in Konflikt mit historischen Beweisen aus dem Islam oder etwa der Indischen und Chinesischen Kultur", resümiert Karl Brunner.
Öffentliches Interesse als positiver Aspekt
Die Historiker Dopsch und Brunner räumen gegenüber science.ORF.at allerdings auch ein, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die Illig durch seine Veröffentlichungen erreicht, durchaus positiv ist, weil sich so Journalisten oder Laien gleichermaßen für Geschichte interessieren.

[4.3.05]
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