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Zufall: Es gibt ihn - höchstwahrscheinlich  
  "Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums", meinte Napoleon I. Bonaparte. Zumindest des Quanten-Universums, müsste man einschränken. Für die Welt der Atome gilt es jedenfalls als ausgemacht, dass Ereignisse keine Ursachen haben.  
"Gibt es den objektiven Zufall?" lautete die aktuelle Frage der Serie "Ask Your Scientist". Ja, es gibt ihn, so die einhellige Meinung der von science.ORF.at befragten Physiker. Offen ist indes nur, ob man diese Ansicht auch endgültig beweisen kann.
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Die Frage im Wortlaut
User "regow": Gibt es den objektiven Zufall? Ich weiß auch, dass der radioaktive Zerfall anscheinend zufällig abläuft, aber tut sich nicht doch einiges im Atomkern?
Ich hab von Strange-Quarks und Up-Antiquarks gelesen, könnte sich hinter dem zufälligen Kernzerfall nicht ein (noch) undurchdringliches Ursache-Wirkungsgeflecht verstecken?
->   Zur Frage samt Diskussionsforum
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Zwei Arten von Zufall
Zunächst eine terminologische Klärung: Zufall ist nicht gleich Zufall. Es gibt nämlich zwei Sorten davon. Ein berühmtes Beispiel für Sorte Nummer eins verdanken wir dem französischen Biochemiker Jacques Monod, der in seinem Buch "Zufall und Notwendigkeit" folgende Situation ersonnen hat:

Der Arzt Dr. Müller wird wegen einer akuten Erkrankung zu einem Hausbesuch gerufen und eilt an die vereinbarte Adresse. Im Nebengebäude arbeitet indessen der Klempner Krause an der Reparatur des Daches. Soweit so gut.

Dann aber passiert folgendes: "Während Dr. Müller unten am Hause vorbeigeht, lässt der Klempner durch Unachtsamkeit seinen Hammer fallen; die (deterministisch bestimmte) Bahn des Hammers kreuzt die des Arztes, der mit zertrümmerten Schädel stirbt."
Der relative ...
Was uns Monod damit sagen wollte: Beide Ereignisse (Hausbesuch, Fallen des Hammers) haben Ursachen, dennoch war ihr Zusammentreffen (der tödliche Unfall) nicht vorhersehbar.

Das ist, wie etwa der deutsche Wissenschaftsphilosoph Gerhard Vollmer betont, ein Beispiel für den relativen Zufall. Auch wenn beide Ereignisse durch lückenlose Kausalketten beschrieben werden können, gibt es für die Überkreuzung dieser Ketten keine definitive Erklärung; wir empfinden sie als zufällig.
... und der absolute Zufall
Genau das meint aber unser User "regow" nicht: Er spricht vom so genannten objektiven Zufall. Und der hat nach Vollmer nichts mit mangelnden Erklärungen zu tun, sondern mit tatsächlich fehlenden Ursachen. Ereignisse ohne Ursache - gibt's das überhaupt? Schon Voltaire zweifelte daran: "Zufall: Ein Wort ohne Sinn; nichts kann ohne Ursache existieren."
Beispiel radioaktiver Zerfall
Andererseits konnte Voltaire noch nichts vom Zerfall von Atomkernen, Neutronen und vielen anderen physikalischen Prozessen wissen, die allem Anschein nach spontan ablaufen.

Ein Beispiel dafür ist etwa das radioaktive Element Uran: Zwar kann man angeben, nach welcher Zeit die Hälfte einer Uranprobe zerfallen ist (beim Uran 238 sind es 4,47 Mrd. Jahre). Allerdings weiß man bei einem einzelnen Atom keineswegs, wann es sich nun dazu entscheidet.

Möglich sind also bestenfalls statistische Aussagen über große Ensembles. Warum ist das so? Und was passiert eigentlich im Inneren eines Uran-Atoms, wenn es zerfällt?
Der Tunneleffekt macht's möglich
Die Antwort auf die zweite Frage gibt der so genannte Tunneleffekt, wie Herbert Pietschmann vom Institut für theoretische Physik der Uni Wien ausführt: "Dabei muss das Spaltprodukt dieses Zerfalls, der Heliumkern, eine Energiebarriere überwinden, die nach der klassischen Physik eigentlich unüberwindbar ist."

Genau über diese Hürde hilft eben der Tunneleffekt, "bei dem sich, salopp gesprochen, der Heliumkern sowohl inner- als auch außerhalb des Urankerns aufhält", so Pietschmann.
->   Tunneleffekt - Wikipedia
"Es gibt ihn"
Damit ist man schon mittendrin in der Quantenwelt mit all ihren seltsamen Erscheinungen. Die Theorie, die diese Welt beschreibt, trägt jedenfalls den Zufall als intrinsisches Element, stellt Pietschmann fest: "Der Zufall ist eine objektive Eigenschaft der Mikrowelt". Anders ausgedrückt: Er existiert nicht nur in unseren Köpfen, sondern auch "da draußen".
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Fragenbank auch bei "Innovatives Österreich"
Fragen jeder Art zum Thema Wissenschaft kann man auch bei der Online-Plattform "Innovatives Österreich" stellen. Daraus entsteht eine öffentliche zugängliche "Fragenbank", die interessantesten Probleme werden an Experten zur Beantwortung weitergeleitet. Regelmäßig präsentiert das Ö1-Radio und science.ORF.at die "Frage des Monats".
->   innovatives-oesterreich.at
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Verborgene Parameter?
Wie unser User "regow" betont, wäre es zumindest denkmöglich, dass sich dennoch hinter dem Zufälligen noch unerkannte Ursachen verstecken. "Verborgene Parameter" nennt man das im Anschluss an den US-Physiker David Bohm, der 1952 genau so eine Theorie vorstellte, die den Determinismus in der Mikrowelt retten sollte.

Die Frage, ob es verborgene Parameter gibt, sei durch Experimente klar entschieden, so Pietschmann: "Es gibt sie nicht." Worum geht es dabei? Kernstück dieser Versuche sind die so genannten Bell-Ungleichungen, die den Spin zweier Teilchen beschreiben.

Der Clou an der Sache ist, dass die Teilchen nicht unabhängig sind, sondern zuvor "verschränkt" wurden. Das heißt, dass die Messung des Spins bei einem Teilchen sofort festlegt, welchen Spin das andere besitzt.
->   EPR-Paradoxon und Bellsche Ungleichung, Uni Wien
Professor Bertelsmanns Socken
Physiker veranschaulichen das gerne durch "Professor Bertelsmanns Socken", sagt Experimentalphysiker Markus Arndt von der Uni Wien:

"Angenommen, ein gewisser Professor Bertelsmann trägt immer einen roten und einen grünen Socken. Kommt nun Bertelsmann im Institut um die Ecke, und wird zunächst nur ein Fuß von ihm sichtbar, dann weiß der Beobachter sofort, welche Farbe die andere Socke hat. Der entscheidende Unterschied zu unseren zwei verschränkten Teilchen ist nun, dass bei diesen die 'Sockenfarbe' gewissermaßen erst durch die Messung erzeugt wird. Sie stand vorher noch nicht fest."

Und: Die "Sockenfarbe" des zweiten, nicht untersuchten Teilchens wird durch die Messung auch dann festgelegt, wenn es sich beliebig weit entfernt von seinem Partnerteilchen aufhält - Einstein nannte das bekanntlich eine "spukhafte Fernwirkung".
->   Hidden variable theory - Wikipedia
Hinweis oder Beweis?
Jedenfalls schließen die Bell-Experimente die Existenz von verborgenen Parametern aus, bestätigt auch Arndt. Ist er nun real, der Zufall?

"Ich glaube schon", so der Wiener Physiker, "aber das ist auch eine philosophische Frage. Experimentell kann man nur zeigen, dass in der Quantenwelt Theorien klassischen Zuschnitts mit lokalen Wirkungen nicht möglich sind: Ob das die Existenz des Zufalls auch beweist, ist schwer zu sagen."
Einstein vs. Bohr
Einer der ersten, der die Existenz verborgener Parameter mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit im Experiment ausschließen konnte, war der Wiener Physiker Anton Zeilinger, der sich im Gespräch mit science.ORF.at ebenfalls als leidenschaftlicher Quanten-Indeterminist bekennt.

Dennoch gibt es, wie Arndt betont, noch immer eine kleine Gruppe von Physikern, die sich mit diesem Zustand nicht abfinden wollen. Und etwa Einstein zitieren: "Gott würfelt nicht." Da gibt es nur eine Antwort, so Zeilinger. Sie stammt vom dänischen Physiker Niels Bohr: "Nun hören sie doch endlich auf, dem Herrgott Vorschriften zu machen!"

Robert Czepel, science.ORF.at, 30.11.05
->   Herbert Pietschmann, Uni Wien
->   Markus Arndt, Uni Wien
->   Anton Zeilinger, Uni Wien
 
 
 
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