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Warum Hirn- und Körperhälften "vertauscht" sind  
  Beim Menschen sind Hirn- und Körperhälften gleichsam spiegelverkehrt gekoppelt: Vereinfacht dargestellt wird die rechte Körperhälfte von der linken Gehirnhälfte gesteuert und umgekehrt. Die Ursache für dieses Phänomen ist nicht eindeutig zu klären, am wahrscheinlichsten gilt jedoch: Die seltsam anmutende Überkreuzung lässt sich evolutionsbiologisch erklären - mit der Notwendigkeit der möglichst schnellen Reaktion auf Gefahrensignale.  
Wie der Neurophysiologe Ralf Galuske vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt erklärt, gibt es für die spiegelverkehrte Beziehung zwischen Hirn und Körper verschiedene Erklärungsversuche.

Seine "Lieblingstheorie": Die Überkreuzung entwickelte sich aus evolutionärer Notwendigkeit. Je schneller ein Organismus mit Fluchtbewegungen auf Gefahren reagieren konnte, desto besser. Die spiegelverkehrte Steuerung könnte einst genau dies ermöglicht haben.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
pkoller100: "Welchen Zweck hat die Überkreuzung der Nervenbahnen zwischen Peripherie und Gehirn? Warum wird - grob gesagt - die linke Körperhälfte von der rechten Hirnhaelfte gesteuert und umgekehrt)? Welche Antworten/Spekulationen gibt es dazu?
->   Zur Frage der Woche mit dem User-Diskussionsforum
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Das Gehirn als Schaltzentrum des Körpers
Das Gehirn des Menschen bildet zusammen mit dem Rückenmark das so genannte Zentralnervensystem. In der recht unscheinbaren, schwammigen Masse befinden sich alle übergeordneten Schaltzentren des menschlichen Körpers:

Bewegungen, Gedächtnisvorgänge, Sprache und vieles mehr wird von den "kleinen grauen Zellen" gesteuert. Botenstoffe, Genregulatoren und Proteine interagieren in einem komplexen Netzwerk von über 100 Milliarden Nervenzellen mit mehreren hundert Billionen Kontaktstellen.
Zweigeteilt und spiegelverkehrt
Dieses Schaltzentrum ist von außen betrachtet in zwei Hälften unterteilt: die so genannten Hemisphären der Großhirnrinde. Und tatsächlich werden viele - wenn auch nicht alle - Funktionen des Körpers spiegelverkehrt im Gehirn koordiniert.

Bekannt sind Fälle von Schlaganfall-Patienten: Ist beispielsweise die rechte Gehirnhälfte von den Schädigungen betroffen, so zeigen sich die Auswirkungen vor allem im linken Körperbereich. Betroffene leiden dann etwa unter Beeinträchtigungen ihrer motorischen Fähigkeiten.
Die Erklärung: Signal von rechts, Reaktion links
Theorien zur Erklärung dieses Phänomens, das schon bei einfach gebauten Wirbeltieren wie z.B. Schleimaalen und Neunaugen vorkommt, gibt es viele, wie der Neurophysiologe Ralf Galuske erklärt. Ein phylogenetischer (stammesgeschichtlicher) Ansatz ist allerdings seiner Ansicht nach am einleuchtendsten.

Das Prinzip ist im Grunde einfach: Erhält ein Organismus von links ein Gefahrensignal, so muss er möglichst schnell reagieren können - und im Zweifelsfall vor dieser Gefahr flüchten. Die Muskeln, die man für diese Reaktion benötigt, sitzen allerdings in der rechten Körperhälfte, denn diese müssen sich für die Fluchtbewegung kontrahieren.

"Dieses Organisationsprinzip hat sich vermutlich irgendwann eingebürgert - und ist dann hängen geblieben", umschreibt Galuske den Vorgang. Zu beobachten ist es im Übrigen heute noch bei Fischen, worauf auch schon unser User "bibelfritz" hingewiesen hat, der relativ nahe an der Lösung war.

Ausgebildet haben dies aber nicht Fische, sondern wohl noch urtümlichere Vorläufer - die so genannten Chordatiere.
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Hintergrund: Die Arbeitsgruppe kritische Evolutionstheorie
Diese Theorie geht zurück auf die Arbeitsgruppe Kritische Evolutionstheorie, die sich Ende der 1980er Jahre in Frankfurt formierte. Nachzulesen ist sie etwa in der Publikation von W. Gutmann und K. Bonik: " Kritische Evolutionstheorie. Ein Beitrag zur Überwindung altdarwinistischer Dogmen".

Ein Zitat: "Chordatiere schwimmen frei, sie schlängeln sich durch Biegungen des Körpers im Wasser. Die Richtung [der Bewegung] kann durch Sinnesinformationen gesteuert werden. [...] Antrieb wird durch abwechselnde Verkürzung der Muskeln beider Körperseiten erzeugt. [...] Wenn nun bei den freischwimmenden, zarten Chordaten, die durchsichtig, empfindlich und wehrlos waren, optische Reize fast immer Bedrohung signalisierten, musste eine schnelle Abwendereaktion einen hohen Selektionswert haben. [...] Schnellere Abwendung von der Reizquelle war dann zu erreichen, wenn die Muskeln der Gegenseite mit steuerndem Wegbiegen des Vorderendes durch Nerven beschleunigt aktiviert wurden. Unter diesem Selektionsdruck bildeten sich im Nervennetz des Rückenmarks zur Gegenseite durchleitende Nervenfasern aus. [...]"

Das Prinzip wurde von der Evolution beibehalten: Dies ist Ausdruck der Tendenz, Strukturen zu erhalten, auch wenn ihr ursprüngleicher "Sinn" nur durch längst vergangene Selektionsdrücke zu erklären ist.
->   Mehr Informationen zur Arbeitsgruppe bei der Uni Frankfurt
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Kein einfaches "Über-Kreuz-Schema"
Allerdings weist der Neurophysiologe darauf hin, dass die Überkreuzung der Nervenbahnen sehr viel komplexer ist, als ein einfaches "rechts-links"- und "links-rechts"-Schema. So werde etwa der motorische Bereich nicht komplett überkreuzt gesteuert.
Sehsinn: Gesichtsfelder getrennt repräsentiert

Diese Komplexität zeigt sich auch am Sehsinn: "Nimmt man den Menschen, oder auch Katzen und Affen, so zeigt sich: Es werden die Gesichtsfelder getrennt repräsentiert, nicht die Augen", erläutert der Neurophysiologe. Ist also bei einem Menschen das visuelle System im linken Gehirnbereich geschädigt, so "fällt nur weg, was im rechten Gesichtsfeld passiert".

Das heißt im Wesentlichen: Zwar sehen beide Augen noch, doch bei beiden Augen fehlt die Information, die das linke Gesichtsfeld betreffen.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Max-Planck-Institut für Hirnforschung
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