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Warum viele Porträts den Betrachter immer anblicken  
  Von Leonardo da Vincis Mona Lisa wird gerne behauptet, sie blicke den Betrachter immer an - egal wo dieser im Raum stehe. Auch viele andere Porträts sollen diese Eigenschaften aufweisen. Die Lösung des Phänomens ist allerdings prosaischer, als so mancher vielleicht glauben möchte: In gewisser Weise sitzt der Kunstliebhaber dabei einer optischen Täuschung auf. Denn nicht das Porträt blickt ihn permanent an, der Betrachter fixiert vielmehr das Bild - und erhält so den Eindruck eines ununterbrochenen Blickkontaktes.  
Der Wiener Kunsthistoriker und Ausstellungskurator Hannes Etzlstorfer hat sich der aktuellen Frage im Rahmen von "Ask Your Scientist" angenommen - und hält eine simple Lösung bereit: Nicht die Augen der dargestellten Figuren blicken demnach den Betrachter an, es ist genau umgekehrt.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
Oliver S.: "Warum schauen viele Bilder einen direkt an, egal wo man im Raum steht?"
->   Zur Frage der Woche mit dem User-Diskussionsforum
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Der "Mythos" der den Betrachter verfolgenden Augen
Die Mona Lisa des florentinischen Renaissance-Malers Leonardo da Vinci ist so ein Beispiel: Von ihr wird gerne behauptet, sie blicke den Betrachter von jedem Punkt im Raum an. Als Erklärung wird etwa ausgeführt, die Frauenfigur schiele und der Eindruck entstehe durch den leichten Silberblick.

Den "Mythos" der den Betrachter permanent anblickenden Bildfigur kennt der Kunsthistoriker Hannes Etzlstorfer allerdings nicht nur vom berühmtesten Frauenporträt der Welt. Ein sehr bekanntes Beispiel seien auch die Bildnisse des österreichischen Malers Friedrich von Amerling - etwa von Kaiser Franz I. von Österreich.

Wie Etzlstorfer erklärt, ist das Phänomen im Grunde sehr einfach zu beantworten - und die Lösung ist sehr viel prosaischer, als mancher erwarten mag.
Porträts: Starrer Blick nach vorne
"Einerseits trägt ein Großteil der Kunstwerke, die sich mit figurativen Elementen beschäftigen, autobiografische Züge", so der Kunsthistoriker. Es handle sich also um Selbstdarstellungen des Künstlers, die dieser - naturgemäß - durch den Blick in einen Spiegel angefertigt habe.

Das dargestellte Porträt zeige die Figur daher immer "en face", mit einem starren Blick nach vorne. Ähnlich liegt die Sachlage laut Etzlstorfer bei repräsentativen Porträts wie der Mona Lisa oder den Bildern des Friedrich von Amerling.
Augen des Betrachters werden "permanent nachjustiert"
Tatsächlich aber blicken nicht die Figuren den Betrachter an, sondern es ist umgekehrt - und zwar egal, an welcher Stelle im Raum sich der Kunstliebhaber positioniert, um das Bild anzusehen.

"Das Augenpaar des Betrachters wird permanent nachjustiert", erklärt der Kunsthistoriker das Phänomen. "Erst dadurch entsteht der Eindruck des permanenten Blickkontaktes. Im Grunde handelt es sich also um eine Art optische Täuschung."
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Unterhaltsame Theorien rund um die Mona Lisa
Die Mona Lisa von Leonardo da Vinci beschäftigt seit Jahrhunderten Kunsthistoriker und Wissenschaftler ebenso wie Laien. Immer wieder will man weitere Details des Porträts entschlüsselt haben. So meinte etwa ein japanischer Mediziner vor einigen Jahren, anhand eines gelben Knötchens zwischen linkem Augenlid und Nasenansatz als Todesursache der Dargestellten die "Ferndiagnose" Herztod stellen zu können.

Und auch das Lächeln der Mona Lisa - gerne mit Begriffen wie "mysteriös" oder "geheimnisvoll" belegt - war immer wieder Gegenstand von diffusen Spekulationen und wurde beispielsweise mit rechtsseitigem Muskelschwund erklärt. Der französische Kunstexperte Jacques Franck schlug 1995 eine andere Lösung des Rätsels vor: Das "berühmteste Lächeln der Welt" habe sich durch feine Risse in der Farbe und Firnis des Gemäldes - so genannte Krakelüren - im Laufe der Jahrhunderte von "lieblich" zu "spöttisch" gewandelt.
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Beispiel Amerling: Repräsentative Porträts
Auch bei Amerlings Darstellungen des Kaisers beispielsweise werde immer wieder behauptet, der Herrscher blicke den Bildbetrachter permanent an, erläutert der Kunsthistoriker Hannes Etzlstorfer.

Tatsächlich aber seien die Bilder repräsentative Porträts des Herrschers - dieser habe darauf natürlich die entsprechende Pose eingenommen: In herrschaftlicher Haltung, mit prunkvollem Ornat und dem Blick starr nach vorne gerichtet.
->   Aktuell: Ausstellung zu Friedrich von Amerling in Wien
Hochrenaissance: Zeit der ersten Porträts
Individuelle Porträts sind im Übrigen erst in der Hochrenaissance nachweisbar, wie der Kunsthistoriker erzählt.

"Man kann davon ausgehen, dass im 14. Jahrhundert die ersten Selbstporträts von Künstlern und die ersten Porträts überhaupt entstanden. Berühmte Beispiele sind die Darstellung von Jean le Bon, die im Louvre hängt und um 1360 entstand, sowie das zeitgleiche Porträt von Rudolf dem Stifter (IV.), zu sehen im Wiener Dommuseum."

Wann dann schließlich die Legende von den den Betrachter verfolgenden Augenpaaren aufkam, lässt sich heute natürlich nicht mehr feststellen. Doch der Mythos hält sich - vielleicht auch, weil er immer wieder zur Faszination der alten Meisterwerke beiträgt.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   www.ausstellungswerkstatt.at
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