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Wieviel "Neandertaler" in jedem Menschen steckt  
  Ist es möglich, dass Neandertaler-typische Merkmale - wie etwa dessen massive Überaugenbögen - auch beim modernen Menschen auftreten? So lautet die aktuelle Frage der Artikelserie "Ask Your Scientist". Die Antwort darauf ist ein klares "Nein": Merkmale wie ausgeprägte "Leisten" am Schädelknochen sind nicht Ausdruck unserer - zweifellos bestehenden - genetischen Verwandtschaft mit dem Neandertaler, sondern vielmehr Eigenschaften, die für den männlichen Knochenbau typisch sind.  
Unser User Hannes R. vermutete letzte Woche außerdem, dass der Neandertaler eine bestimmte Blutgruppe aufgewiesen habe: Der Anthropologe Horst Seidler von der Uni Wien weist darauf hin, dass solche Überlegungen reine Spekulationen seien - und außerdem keine Rückschlüsse auf den Verwandtschaftsgrad mit dem modernen Menschen zuließen.
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Die Frage(n) im Wortlaut
Hannes R.: "Ich habe gelesen, eindeutige Erkennungszeichen eines Neandertalerschädels seien die starken Augenbraunleisten, sowie eine horizontale Knochenfurche am Hinterkopf. Darüber hinaus gibt es eine Theorie, dass die Neandertaler Rhesusfaktor negativ gewesen seien. Ich weise alle drei Merkmale (wenn auch in etwas abgeschwächter Form) auf.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass in mir Genmaterial dieser ausgestorbenen Urmenschen schlummert?"
->   Zur Frage samt Diskussionsforum
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Der Neandertaler - eine europäische Sonderentwicklung
Von Horst Seidler

Freilich sind wir alle mit den Neandertalern weitschichtig verwandt. Zur Zeit aber spricht alles dafür, dass Homo sapiens sich nicht direkt aus dem europäischen Neandertaler entwickelt hat, sondern dass der Neandertaler eine ausgestorbene, europäische Sonderentwicklung darstellt.

DNA-Analysen aus Knochenresten von drei Neandertalern legen eine frühe Trennung der Entwicklungslinien "Neandertaler" und "Homo sapiens" von einem gemeinsamen Vorfahren nahe - das letzte Wort ist in dieser Diskussion freilich noch nicht gesprochen.
Koexistenz vor 30.000 Jahren
Vor rund 30.000 Jahren noch lebten Neandertaler und Homo sapiens in Europa nebeneinander - friedlich oder nicht friedlich. Glaubt man den DNA-Analysen, so hat es keine genetische Vermischung gegeben.

Andere Wissenschafter hingegen sind davon überzeugt, dass eine Kreuzung zwischen Neandertalern und Homo sapiens sehr wohl möglich gewesen wäre. Wie auch immer, verwandt sind wir - in welchem Grade bleibt offen - mit den Neandertalern auf jeden Fall.
->   Knochen des vermutlich ältesten Europäers gefunden (23.9.03)
->   Neandertaler mischten sich nicht mit Menschen (13.5.03)
"Augenbrauenleisten" sind sexualtypische Merkmale
Dennoch, die in der aktuellen Frage von "Ask Your Scientist" angeführten gestaltmäßigen Merkmale sind typisch für Neandertaler und kommen aber in diesen Ausformungen beim modernen Menschen nicht vor - auch bei User "Hannes R." nicht.

"Starke Augenbrauenleisten" sind ein typisch männliches Sexualmerkmal am Schädelknochen und unterscheiden sich grundsätzlich von den massiven Überaugenbögen der Neandertaler.
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Knochenleisten sind Belege für starke Muskulatur
Das, was von Hannes R. als "horizontale Knochenleiste" am Hinterhauptsbein bezeichnet wird, ist Ausdruck starker Muskelmarken am Knochen, die zur Befestigung der Nackenmuskulatur dienen - auch das ist Ausdruck eines geschlechtsspezifischen männlichen Merkmales: Starke Muskelmarken am Knochen sind Beleg für starke Muskulatur - sonst nichts.
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Ausprägung der Blutgruppen ist spekulativ
Das Hinterhauptbein des Neandertalers ist grundsätzlich anders geformt und entspricht grundsätzlich nicht jenem des modernen Menschen. Überlegungen über die Ausprägung der Blutgruppen beim Neandertaler sind reine Spekulationen, die mit der Wirklichkeit absolut nichts zu tun haben.

Der Rhesus-Faktur jedenfalls, ob positiv oder negativ, sagt nichts über den Verwandtschaftsgrad mit den Neandertalern aus.
Neandertaler-Merkmale gibt es beim Menschen nicht

Bedenken Sie jedoch, dass wir moderne Menschen rund 99 Prozent unseres Erbgutes mit den Schimpansen gemeinsam haben, dann werden wir wohl auch genetisch einiges mit dem Neandertaler gemeinsam haben.

Diese Gemeinsamkeit jedoch hat nichts mit gestaltmäßigen Merkmalen zu tun, wie sie etwa am Schädel zur Differentialdiagnose zwischen Homo sapiens und Neandertalern dienen.

Die Verwandtschaft mit den Neandertalern - wie eng oder fern sie auch sein möge - ist kein Grund sich zu schämen, befanden sich doch die Neandertaler im Gegensatz zu traditionellen Vorurteilen auf einer kulturell sehr hohen Stufe, die uns Hochachtung und Bewunderung abnötigt.
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"Ask Your Scientist": Stellen Sie auch weiterhin Fragen
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Sie können die Fragen unter der E-mail-Adresse askyourscientist@orf.at stellen oder per Post: science.ORF.at, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien.
->   So funktioniert "Ask Your Scientist"
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->   Das "Ask Your Scientist"-Archiv
->   www.innovatives-oesterreich.at
->   Homepage von Horst Seidler (Uni Wien)
->   Das Stichwort "Neandertaler" im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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