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Peter Biegelbauer
Institut für Höhere Studien
 
ORF ON Science :  Peter Biegelbauer :  Gesellschaft 
 
Lissabon-Strategie: Europa als neue Nummer Eins? (I)  
  Die im März 2000 von den Staatsoberhäuptern der EU Mitgliedsstaaten beschlossene Lissabon-Strategie zielt auf die Überrundung der Vereinigten Staaten ab. Dabei sollte Europa innerhalb von zehn Jahren zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Teil der Erde werden. Zentrale Bedeutung kommt den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Bildung zu, die zum Wachstumsmotor werden sollen.  
Zwischenergebnisse einer missglückten Aufholjagd
Am 22./23. März findet in Brüssel der Frühlingsgipfel 2005 statt, an dem die EU-Regierungschefs die vorerst wenig ermutigenden Resultate der Lissabon-Strategie diskutieren.

Wichtige Indikatoren wie Wirtschafts- und Jobwachstum, Produktivität, Ausgaben für Forschung und Entwicklung oder für die wichtigen Informations- und Kommunikationstechnologien deuten ein weiteres Zurückfallen der EU hinter die USA an.
Vorbild ohne konkreten Hinweise
Dabei ist es interessant zu bemerken, dass in den politischen Dokumenten der Europäischen Institutionen zwar regelmäßig auf die Vereinigten Staaten Bezug genommen wird - meist aber nur mit dem Hinweis, dass Europa die USA im internationalen Wettbewerb überflügeln soll. Kaum wird hingegen auf spezifische Merkmale der US-Amerikanischen Wirtschaft oder gar auf konkrete politische Maßnahmen hingewiesen.

Dies ist gerade im Bereich Forschung und Technologie besonders verwunderlich, wo die Vereinigten Staaten weltweit seit Jahrzehnten die meisten Mittel ausgaben und in den letzten zehn Jahren auch ein konstant hohes Wachstum vorweisen konnten.

Tatsächlich liegen die Ausgaben der Vereinigten Staaten seit Anfang des Jahrzehnts auf ungefähr einer Höhe mit den Forschungsausgaben der EU und Japans zusammen.
Doch die USA als Nummer Eins?
Dass die USA im Bereich Forschung und Technologie weiterhin führend sind, beweisen aber nicht nur die Ausgaben für diese Tätigkeiten - auch die Resultate stimmen: In den letzten 25 Jahren kamen 60 Prozent der Nobelpreisträger aus den USA.

Das Land ist auch weiterhin in der Lage, schnell auf neue Wissenschafts-Trends zu reagieren. Besonders bei Ausgaben im Bereich der medizinischen Forschung und hier wiederum in strategischen Bereichen wie der Genomforschung ist das Wachstum der US-Amerikanischen Forschungsausgaben seit Ende der 1990er Jahre erstaunlich.

Von 1998 bis 2003 wurde das Budget der National Institutes of Health durch den Congress verdoppelt!
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Beispiel Zukunftsfeld Nanotech
Aber nicht nur die Politik reagiert rasch, die Unternehmen tun das ebenso. Während in Europa noch Diskussionen um die Relevanz des Themenbereiches geführt wurden, wurden in den Vereinigten Staaten bereits mehr private Mittel für Nanotechnologie ausgegeben als in Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen.

Mittlerweile sind die staatlichen Ausgaben der EU und der USA im Bereich Nanotechnologie in etwa gleich groß, während US-Amerikanische Firmen laut einer Untersuchung von 2004 des US Nanotech Think Tanks Lux Research beinahe drei mal so viel in die Zukunftstechnologie investieren wie europäische Unternehmen.
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Unterschiedliche Zugänge
Auch fünf Jahre nach dem Ausrufen der Lissabon-Strategie ist die EU kaum an den USA interessiert. Dabei drängt sich die Frage auf, ob denn die EU nun etwas von den Vereinigten Staaten lernen könnten. Tatsächlich unterscheiden sich ja die Innovationssysteme der USA und der EU-Länder in verschiedenster Hinsicht.

Vor dem Hintergrund der europäischen Lissabon-Strategie besonders interessant erscheint der unterschiedliche Zugang zur Forschungs- und Technologiepolitik beiderseits des Atlantiks.
USA: Nicht eine Forschungs- und Technologiepolitik ...
Hier trifft der interessierte Beobachter zu allererst auf das scheinbare Paradox, dass US-Politiker (zu recht) behaupten: "Wir haben keine Forschungs- und Technologiepolitik, wir addieren einfach zusammen, was wir tun!"

Tatsächlich gibt es in den USA keine einzelne Forschungs- und Technologiepolitik koordinierende Instanz, sondern viele Institutionen, die aber alle nur beratende Funktionen haben und vor allem Wissen und Expertise für Entscheidungen in Politik und Verwaltung bereitstellen.

Beispiele umfassen den besonders für den Congress wichtigen National Research Council, das Office of Science and Technology Policy des Präsidenten, den Presidential Council of Advisers on Science and Technology und den Federal Coordinating Council for Science, Engineering and Technology.
... sondern Vielzahl an Organisationen und Programmen
Gleichzeitig gibt es aber eine Vielzahl von Organisationen, die alle über eigene Programme verfügen. Da sind einmal die größten staatlichen Geldgeber, die Departments of Defense, Energy, Commerce und Homeland Security, die zudem über eine Reihe von eigenen Forschungseinrichtungen verfügen - alleine im Fall des Verteidigungsministeriums existieren mehr als 100 davon.

Weiters werden jährlich vom Congress große Geldmittel über nationale Agenturen wie die National Institutes of Health, die National Air and Space Administration und die National Science Foundation ausgegeben, die ihrerseits teils über eigene Programme verfügen.

Das gilt schließlich auch für forschungsorientierte Universitäten wie das Massachusetts Institute of Technology, Stanford oder Harvard University, die ihrerseits auch von den Ausgaben der einzelnen Bundesstaaten für Bildung, Forschung und Technologie profitieren.
Selten große Pläne
Eine - auch hier nur teilweise - Koordination dieser Aktivitäten findet nur im Fall nationaler Kraftanstrengungen statt, wie beispielsweise in Präsident Kennedy's Plan, einen "Mann noch vor dem Ende der Dekade auf den Mond zu schicken" oder dem "War on Terror" von George W. Bush.

Bemerkenswert ist also nicht nur das Fehlen einer Koordination der Forschungs- und Technologiepolitik, sondern auch der, mit wenigen Ausnahmen meist historischer Tragweite, weitgehende Verzicht auf große Pläne.
Dennoch klare Ziele
Dabei bedeutet das aber nicht einen Verzicht auf klare politische Ziele. Ganz im Gegenteil wird ein großer Teil der Forschungsausgaben von staatlichen und privaten Geldgebern bestritten, die den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern klare Vorgaben in Bezug auf Zielsetzungen machen.

Gleichzeitig ist jedoch der Anteil der Grundlagenforschung mit einem Drittel der Bundesausgaben auch stabil. Nie ist alle Forschung auf bestimmte Ziele ausgerichtet, nie ist das Vertrauen der Politik in die eigenen Fähigkeiten so groß, dass die Mittel in die ungerichtete Forschung nachhaltig beschnitten würde.
Nachteil Parallelstrukturen
Die Nachteile eines solchen relativ unkoordinierten Vorgehens liegen vor allem in der Schaffung von Parallelstrukturen in Verwaltung und ausführenden Institutionen mit daraus resultierenden Ineffizienzen.

Auch organisatorische Rivalitäten zwischen US-Amerikanischen Ministerien und Regierungsagenturen sind bereits Legende - und im Fall der Sicherheitsstrukturen und Geheimdienste nach 9/11 auch breit diskutiert.
Vorteil: "Plan B" schneller greifbar
Auf der anderen Seite bietet eine solche Vorgehensweise auch einige Vorteile. Wenn in verschiedenen Organisationsformen gleichzeitig an einem Problem gearbeitet wird, bedeutet das auch, das oft verschiedene Lösungsansätze vorhanden sind.

Sollte ein Ansatz versagen, ist ein "Plan B" schneller greifbar. Ein System, das solche Vorteile besitzt, ist langfristig weniger fehleranfällig als ein System, das zentralisiert Lösungen ausarbeitet.

[21.3.05]

Teil 2 des Artikels erscheint in einigen Tagen in science.ORF.at - er stellt dem amerikanischen System der Innovationspolitik das europäische gegenüber.
->   Alle Beiträge von Peter Biegelbauer
Informationen zum Thema:
->   Hintergrundinformationen zur Lissabon-Strategie (Wikipedia)
->   Zwischenbericht der Expertengruppe um Wim Kok (EU)
->   Webpage der Europäische Kommission zum Thema
->   US-Amerikanische Forschungslandschaft (AAAS)
->   US-Amerikanische Forschungsausgaben 2005 (AAAS)
->   Aktuelle Probleme der US-Forschungspolitik (Issues in S and T)
 
 
 
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