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Peter Biegelbauer
Institut für Höhere Studien
 
ORF ON Science :  Peter Biegelbauer :  Gesellschaft 
 
9/11 revisited: Alte Probleme, neue Lösungen?  
  Der zweite Jahrestag der Katastrophe, die in den USA vor zwei Jahren mehrere tausend Menschenleben mit einem Schlag auslöschte, bietet sich zu einem Überdenken der weltpolitischen Situation an. Wie hat unsere Welt sich seit 9/11 verändert?  
Eigentlich hängt eine Antwort auf diese Frage von der Betrachtungsweise des Problems ab. Haben sich die globalen Probleme verändert? Nein, müsste hier die Antwort sein, denn die Probleme vor 2001 und nach 2001 sind die gleichen geblieben.

Hier die wohlhabenden Staaten der Erde, vereint in noblen Clubs wie den G7, G8, G10, OECD, EU und anderen informellen und formellen Zusammenschlüssen - dort die überwiegende Mehrheit der Staaten, die von den Problemen, die bei den Treffen der G8 oder der EU-Ratstreffen besprochen werden, nur träumen können.
Globalisierung? Can't happen here
Zum Beispiel die vielgerühmte und ebenso geschmähte Globalisierung: Die weitaus meisten Erscheinungen der Globalisierung beschränken sich auf die Triadenländer Japan, USA und EU. Dies gilt für die Verschränkung der Finanzmärkte ebenso wie für verstärkten Flugverkehr, für das Vorhandensein von PCs ebenso wie für Telephon- und Internetanschlüsse.
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Die Kunst des Überlebens
Wie sollten sich die, wie das im diplomatischen Sprachgebrauch so schön heißt, weniger und am wenigsten entwickelten Staaten ("low and least developed countries" im Englischen), auch um Finanzmärkte kümmern können, wenn sie nicht einmal die Grundschulausbildung für ihre Bevölkerung sicherstellen können.

Ganz abgesehen von Kennwerten wie der Säuglingssterblichkeit, die um ein mehrfaches über jener der höher entwickelten Weltregionen, und der durchschnittlichen Lebenserwartung der Menschen, die um bis zu 50 Prozent unter jener der reichen Erdteile liegt.
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Die Werte ...
Was hat sich also durch 9/11 verändert? Einige Probleme sind nun noch deutlicher sichtbar als vor zwei Jahren.

Die Wertedifferenzen zwischen den verschiedenen Kulturkreisen, etwa die Einstellung zu Demokratie und Pluralismus im westlichen Sinne. Es hat sich, klarer als jemals zuvor, herausgestellt, dass ein Teil der Weltbevölkerung nicht notwendigerweise diese Werte für so wichtig hält, wie das in Europa und den USA der Fall ist.
... und die Gewalt
Nirgends wird das im Moment deutlicher als im Irak, in dem die Weltbilder der US-Besatzungssoldaten und der Irakis täglich aufeinanderprallen.

Die Eskalation der Gewalt manifestiert sich in verschiedener Weise: in Bombenanschlägen mit Dutzenden von Toten auf beiden Seiten, aber auch in einer symbolischen Gewaltausübung, wenn etwa US-Soldaten religiöse Fahnen herunterreißen oder männliche US-Soldaten Leibesvisitationen bei irakischen Frauen durchführen.
Demokratische Irrungen
Unter diesen Umständen wird wohl den Skeptikern des Irakfeldzuges beizupflichten sein, die von vornherein die Errichtung einer pluralistischen Demokratie in einer Gesellschaft ohne jegliche Tradition in diese Richtung für nahezu unmöglich gehalten hatten.

Zumal die irakische Bevölkerung ja mit - trotz der Befreiung aus den Fängen der Diktatur eines Saddam Hussein - Zwangsmaßnahmen von den Errungenschaften jener Form der westlichen politischen Systeme überzeugt werden soll, die im Westen Jahrhunderte zu ihrer Herausbildung benötigt haben.
Transatlantische Wirrungen
Hat sich durch 9/11 also etwas tatsächlich verändert? Die transatlantische Allianz zwischen den EU-Mitgliedsländern und den USA ist einer eminenten Belastungsprobe ausgesetzt worden.

Auf der einen Seite des Atlantiks wollte man entweder den Schock, den 9/11 in den USA ausgelöst hatte, nicht verstehen oder man konnte es nicht. Auf der anderen Seite des Ozeans rief die US-amerikanische Regierung die Parole aus "wer nicht für uns ist, ist gegen uns" und verlangte die bedingungslose Solidarität auf Basis der eigenen Angst vor weiteren Terroranschlägen.
Die Zukunft der NATO
Bis zum heutigen Tag ist nicht offensichtlich, ob die transatlantische Allianz diese Belastungsprobe überstehen wird. Zu deutlich sind die Risse zwischen den größten kontinentaleuropäischen Nationen, Frankreich, Deutschland und Russland, sowie der angelsächsischen Allianz der USA und Großbritanniens.

Doch auch innerhalb dieser sich kurzfristig herausbildenden Allianzen gibt es genug Ambivalenzen. Ein Beispiel ist Russland, das versucht durch geschicktes Taktieren den einstmaligen Status als Supermacht wiederzuerlangen, ein anderes Italien, das sich zwar ostentativ auf Seiten der Vereinigten Staaten stellte, aber gleichzeitig keinerlei kriegsunterstützende Handlungen setzte.
Und die Gegenwart der UNO
Das nunmehrige Umschwenken der US-Regierung im Irakkonflikt, weg vom Unilateralismus in Richtung einer Aufwertung der Rolle der internationalen Staatengemeinschaft, ist wohl ein Effekt von wenigstens zwei Faktoren: den finanziellen Belastungen, die den Staatshaushalt der Vereinigten Staaten völlig aus dem Ruder laufen lassen, sowie den damit wohl auch in Zusammenhang stehenden Meinungsumfragen, in denen sich eine immer größere Anzahl von US-Bürgern skeptisch zum Irakkrieg äußert.

Da eine Reihe von nach wie vor skeptischen europäischen Ländern eine größere Rolle der UNO einfordert, scheint eine Beteiligung der Vereinten Nationen an der Konfliktlösung in greifbare Nähe zu rücken. Vielleicht kann dann zumindest die UNO vor langfristigen Schäden aus 9/11 bewahrt werden.
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Peter Biegelbauer ist Leiter der Arbeitsgruppe "Soziales Lernen" an der Abteilung Soziologie des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien.
->   Informationen zur IHS-Arbeitsgruppe (pdf-Dokument)
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->   Sämtliche Beiträge von Peter Biegelbauer in science.ORF.at
->   Aktuelles zu 9/11 in ORF.at: Zwei Jahre danach - die offenen Fragen
 
 
 
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