Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Aus der Erinnerung der Zeitzeugen  
  Den für die Geschichtsforschung einzigartigen Quellen der "Oral History" widmet sich eine eben veröffentlichte Studie von Irene Riegler und Heide Stockinger, die über Jahre hinweg in Interviews und durch schriftliche Stellungnahmen von Zeitzeugen Eindrücke und Erlebnisse der Zeit 1945-1955 in Wien und Linz zusammengetragen haben.  
Oral History

Kriegsheimkehrer
(Otto Croy, ÖNB)
Neben den zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen im Gedenkjahr 2005, die nicht zuletzt durch die Öffnung der Archive der Alliierten (bis hin zu den Geheimdienst-Akten) und durch die Aufarbeitung von Nachlässen beteiligter Politiker zahlreiche neue Aspekte zu der Besatzungszeit Österreichs eröffnen, wird das Geschichtsbild durch Memoiren und Zeitzeugenbefragungen wesentlich ergänzt.

Trotz aller Schwächen subjektiver Erinnerungen geben sie doch einzigartige Details aus dem persönlichen Erleben wieder.
Das individuelle Gedächtnis

Sammlung von Heizmaterial im Bombenschutt (ISB Staff, 1945)
Die persönlichen Erlebnisse und die nachwirkenden Erinnerungen vermitteln mehr noch als die schriftlichen Quellen konkrete Einblicke in die Besatzungszeit. So erfährt man von der Angst, von der Bedrohung unter der russischen Besatzungsmacht, aber auch von dem Respekt russischer Soldaten vor Älteren und Kindern.

Gerade die Auswahl von Linzer Zeitgenossen führt die Bahnüberfahrten von der amerikanischen in die russische Zone mit allen Schwierigkeiten sehr drastisch vor Augen.

Die in den Wissenschaftspublikationen mit Statistiken erfassten Wohnungsenteignungen in Wien werden anhand solcher Berichte durch konkrete Einzelschicksale und deren Überlebenskampf ergänzt.
Ergänzungen zur Historie

Kriegsheimkehrer
(Otto Croy, ÖNB)
Für die Auflösung der Deutschen Wehrmacht und den beginnenden Heeresauflösung geben diese Augenzeugen ein realistisches Bild des Kriegsendes. Als die Amerikaner anfangs noch als Sieger (und nicht als Befreier) das Land betraten, wirkte sich dies auch in der Behandlung der Soldaten in den Gefangenenlager aus.

Es geben die Darstellungen aber auch einen sehr plastischen Eindruck davon, wie sich die Generation der Zwischen- und Nachkriegszeit in der Not zu helfen wusste, wie man am Aufbau des Landes mitmachte und welche Schwierigkeiten im Alltag bestanden (der Schwarzmarkt blühte, Hamsterfahrten aufs Land waren üblich, die Wirtschaftlage war katastrophal, Altnazis waren immer noch vorhanden ...).

Einige Beispiele aus den 21 Beiträgen seien als kleine Momentaufnahmen dieser Zeit angeführt:
Lynchjustiz an den Alliierten
Rudolf Niederdöckl (*1926, Linz): "Das deutsche Militär hat die schützen müssen, die abgesprungen sind, vor den Bauern, die sie verprügelt haben.

Das Gleiche ist mir zuvor einmal in Innsbruck passiert, an der Serles ist auch ein Flugzeug zerschellt, sechs oder acht Mann, Feinde, sind abgesprungen und sind auch den Bauern in die Hände gefallen - das war nicht schön, muss ich sagen. Bei der Römerbergschule [Linz] war ein ähnlicher Vorfall. Da haben sich die Leute genau so benommen, sie haben mit den Totenköpfen Fußball gespielt - aus Zorn, nicht per Gaudi."
Wehrmachtsauflösung
Alois Bindeus (1911-2001, OÖ): "Um fünf in der Fruah is der Befehl kemma, die ganze Mannschaft sofort sammeln, eilends zsammapacka, mir fahrn'n weg nach Amstetten obi, dort müass ma gegen 'n Russn kämpfn. ... Mir ham uns ausgmacht, sobald ma durch an Wald fahrn, wo man net recht eingsehn han, springa ma vom Wagn und versteckn uns. ... Af oamal hat's gehoaßen: Die ganzen Lastwagen stehn bleiben auf der Straßn, die ganze Mannschaft schnell oba und in Deckung gehen und si irgendwo verstecka.

... Aft haben s' uns herint auf der Straßn scho wieda pfiffn, alles sammeln, aufsteign, mir fahrn weiter. ... Mir han nimma obiganga, wia s' uns pfiffn ham. Und die han aft weggfahrn, weil da is eh scho so drawi zuganga, da ham s' nimma Zeit ghabt zum Zähln, ob alle da han."
Amerikanische Kriegsgefangenschaft bei Wesel (D)

Zerbombtes Haus in der Reisnerstraße, 1945
(Otto Croy, ÖNB)
Herbert Jüttner (1927-2005, Linz): "Zu viert gruben wir uns mit einem Esslöffel eine quadratische Grube von etwas 180 cm Seitenlänge und 60 cm Tiefe. Darüber errichteten wir aus unseren Zeltbahnen ein Pyramidenzelt. Da wir aber nur drei Zeltbahnen hatten, blieb eine Seite frei. An jeden Gefangenen wurde ein leerer Zementsack ausgegeben, der aus drei Lagen Packpapier bestand. ... Sie hielten die Bodenfeuchtigkeit aber nur ungenügend ab. Zwei Kameraden, die Mäntel hatten, lagen an der Außenseite, wir beiden anderen ohne Mäntel in der Mitte.

... Zu essen gab es die beiden ersten Wochen weder Brot noch Kartoffel ..., sondern nur jeden zweiten Tag eine kleine halbe Konservendose. Nach vierzehn Tage wurden je 100 Mann ein Brot ausgegeben. ... Später erhielten wir dann pro Tag für sechs bis sieben Mann ein Brot. In dem Lager lagen auch Verwundete, ja sogar Amputierte und Kranke. Es starb täglich eine große Zahl, was aber niemand registrierte."
Die ersten russischen Truppen in Wien 1945

Sowjetische Kommandatur bei der Bellaria mit Lenin- und Stalinbild,
1945 (Otto Croy, ÖNB)
Karl Rauch (1911-2003; 1010 Wien): "Es war eine schreckliche Zeit. Die Russen, die vorerst nicht plünderten, wurden von Mongolen abgelöst, die ein Feldlager in der Quellenstraße aufschlugen.

... Sie plünderten in den Häusern, wo es nur ging. Meine "guten" Nachbarn hatten nichts Besseres zu tun, als russischen Offizieren, die Quartier suchten, unsere Wohnung aufzusperren.

... In der Nacht hörte man die Menschen schreien, da die Russen in die Häuser eindrangen und die Frauen vergewaltigten. Es brachen Seuchen aus. Das war der Grund, dass an manchen Häusern an den Haustoren Zetteln mit der Aufschrift "Achtung Typhusgefahr!" angebracht wurden. Es war in deutscher und russischer Schrift zu lesen. Diese Häuser mieden die Russen."
Plünderungen durch die Wiener
Margarethe Sieber (Pseudonym, *1927, Wien): "Da wir alle unsere Wohnungen im Gaswerk verlassen hatten, wurde - so wie überall - nach dem Abzug der Russen geplündert. Doch nicht die Russen nahmen alles mit, sondern es waren die Einheimischen, die plünderten.

Man teilte uns mit, dass eingebrochen wurde, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, verschwand. Unser Klavier kam irgendwie in die Werkskantine und wurde jämmerlich malträtiert. Im Gaswerk war auch ein großer Luftschutzkeller. Dort hatten wir viele Kisten voll mit Wäsche. Meine Mutter hatte ihr ganzes Leben für die Aussteuer ihrer drei Mädchen gespart, und nun war alles weg, und wir hatten nichts mehr!"
Schleichhandel

Schwarzmarkt im Resselpark (Otto Croy, ÖNB)
Karl Rauch: "Man lebte damals von der Hand in den Mund. ... Ich tat das, was alle anderen auch taten. Ich sah mich einmal im Resselpark um, wo der ganze Schleichhandel florierte. ... Am meisten ging es um Lebensmittel ... und um Zigaretten ... auch Feuersteine waren gefragt.

Ich ging in unsere Trafik. Die Trafikantin hatte sich dummerweise in die Partei einschreiben lassen und hatte ihr Geschäft schließen müssen. Sie besaß noch verschieden Vorräte, aber nichts zu essen. Ich bekam von ihr ein paar Pakete Feuersteine und Zigaretten. Damit ging ich in den Resselpark und machte ein gutes Geschäft für sie. Ich brachte ihr Brot, Schmalz, Mehl und andere Lebensmittel."
Der russische Uhrenklau

Russische Kommissarin am Kärtnering,
1946 (Siegenfeld, ÖNB)
Konrad Feichtinger (*1926, Wien): "Wie ich runter zu meiner Wohnung komme, stehen die ganzen Hausparteien Spalier beim Eingang. Sie haben mir gesagt, dass gerade die Russen da waren, da haben wir uns müssen aufstellen, und die haben unsere ganzen Uhren kassiert. Ura, Ura, haben sie gesagt.

Ich habe eine Taschenuhr gehabt mit einem Anhänger, eine schöne Uhr. ... Im Haus haben sie alle Uhren abgeräumt gehabt, und wie ich mit der Uhr nach Haus bin, haben alle gesagt: 'Um Gottes willen, gib die Uhr weg!' ... Es war ja bekannt, dass die Russen die Uhren genommen haben."
Entbehrungen

Grenze zu Ungarn
bei Schattendorf (USIS Staff)
Gerhard Grom (*1943, Wien): "Meine Haupteigenschaft, die ich in dieser Zeit gehabt hab, war Hunger. Bei uns zu Hause hat es Menü 1, Menü 2, Menü 3 gegeben. Menü 1 war Erbsen, Karotten, Erdäpfel. Menü 2 war Erdäpfel, Karotten, Erbsen und Menü 3: Karotten, Erdäpfel, Erbsen. Bis zu meinem 10. Lebensjahr hab ich immer so abwechselnd gegessen. Eine Wurstsemmel war für mich eine Utopie.

Am 10. Geburtstag hat mich meine Mutter ausgeführt in den 16. Bezirk zum Spiegelgrund, Ringelspiel fahren. Ich habe auch ein Stück Torte und einen Kakao gekriegt. Ich hab ... meine Mutter gefragt, ob es einmal eine Zeit geben könnte, wo ich einmal so viele Knackwürste essen kann, wie ich will. Sie hat gesagt, dass das schon noch werden wird, weil Österreich ist im Aufbau."
In Zeiten der Sparsamkeit

USIA-Laden, Ecke Freihausplatz/
Operngasse, 1040 Wien, 1953 (USIS Staff)
Herbert Jüttner: "Meiner Mutter schenkte ich dann zu Weihnachten 1947 ein Kilo Kristallzucker. Dafür musste ich 110 Schilling hinlegen [bei einem Monatslohn von 90 Schilling]. Meine Braut trieb zu Silvester von irgendwo ein Säckchen Mohn auf.

Für den Mohnstrudel, den wir uns vorgenommen hatten, kaufte ich dann auf der Schmelz, wo die Schleichhändler nebeneinander standen, Mehl um teures Geld. Leider stellte sich nach Fertigstellung des Strudels heraus, dass in dem Mehl auch Gips war, denn der Strudel war steinhart und ließ sich kaum schneiden. Solche Dinge kamen eben auch vor."
Der Staatsvertrag

Der Staatsvertrag,
15.5.1955 (USIS Staff)
Margarethe Sieber: "Ich muss ganz ehrlich sagen, dass wir nicht glauben konnten und wollten, dass Österreich wieder frei werden würde. Nur der einzigartigen Diplomatie von Figl und Raab verdanken wir unsere Freiheit. Sie konnten mit den Russen reden und - wenn nötig - auch trinken.

Ich kann mich noch sehr genau an den 15. Mai 1955 erinnern, als der Staatsvertrag im Belvedere unterzeichnet wurde und Außenminister Figl rief: 'Österreich ist frei'. ... Es war ein grenzenloser Jubel überall, man lachte, weinte, umarmte sich, jubelte und tanzte. Es gab weder Schwarz noch Rot, wir waren plötzlich ein freies Land, ein gemeinsames Volk, ein glückliches Österreich."
Neutralität

Die Außenminister am Balkon von Schloss Belvedere, 15.5.1955 (USIS Staff)
Franz Rieger (*1931, Linz): "Als der Staatsvertrag unterzeichnet wurde, arbeitet ich bei Palmers in Deutschland.

... Ein Schwabe, der mich immer als 'Gaschtarbeiter' angeredet hat, hat zu mir gesagt: 'Ihr seid doch Schlaumeier, ihr Österreicher, ihr wollt westlich leben, aber dabei sein doch nicht ganz, ihr wollt neutral bleiben.'

Ja, mit leiser Häme hat er gesagt: 'Das sind die Österreicher, sie waren keine Nazis, und jetzt sind sie neutral!'"
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Generationen erzählen
Hrsg. von Irene Riegler und Heide Stockinger
Geschichten aus Wien und Linz 1945 bis 1955
(Damit es nicht verlorengeht, Bd. 54)
Böhlau-Verlag 2005
296 Seiten, gebunden
ISBN 3-205-77356-X
->   Informationen zum Buch
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Die junge Republik
Die Bilder wurden der gleichnamigen Publikation der Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek ("Alltagsbilder aus Österreich 1945-1955") entnommen.
Die Ausstellung ist noch bis 31. Oktober 2005 im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen.
Der reich bebilderte Begleitband ist im Ueberreuter-Verlag erschienen (hrsg. v. Hans Petschar).
->   Informationen zur Ausstellung
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Erzählte Geschichte
Geschichtsdokumente im work of progress zum Gedenkjahr, gesammelt auf der Website 2005.ORF.at
->   2005.ORF.at
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->   Gedenkjahr 2005 in science.ORF.at
 
 
 
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