Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
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Die Gunst des Augenblicks
Der Staatsvertrag im Zentrum neuester Forschung
 
  Ein Team der profiliertesten Zeithistoriker Österreichs hat sich den Themen Staatsvertrag und Österreich 1945-1955 unter verschiedensten Aspekten zugewandt und einen Status quo der wissenschaftlichen Forschung gegeben.  
Die Eckdaten

Die ersten zehn Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges sind von einigen Eckdaten für die österreichische Geschichte geprägt:

27. April 1945 (Tag der österreichischen Unabhängigkeitserklärung),
4. Juli 1945 (Erstes Kontrollabkommen zwischen den Alliierten), 25. November 1945 (Erste freie allgemeine Wahlen nach dem Krieg mit Absage an die Kommunisten),
28. Juni 1946 (Zweites Kontrollabkommen zwischen den Alliierten), 15. Mai 1955 (Abschluss des Staatsvertrages),
26. Oktober 1955 (Verabschiedung des Verfassungsgesetzes der immer währenden Neutralität).

Dazwischen stand eine immer stärkere Spannung zwischen den Westalliierten und den Russen; der Kalte Krieg brach aus, und Wien war einer der Schauplätze. Jede Besatzungsregion erlebte in der Folgezeit eine eigene Entwicklung, von der Überwindung des NS-Herrschaft mit Entnazifizierungen bis zum Wideraufbau der Infrastruktur und der Regenration des Landes.
Der Klassiker und die Detailforschung

Die wissenschaftliche und kritische Auseinandersetzung nicht nur mit dem Nationalsozialismus, sondern auch mit der Besatzungszeit erlebte in den letzten Jahrzehnten einen Aufschwung:

Sowohl der Staatsvertrag an sich als auch die Entwicklungen in den Bundesländern, der nachhaltige Einfluss der Besatzungsmächte auf die Umgebung, mitunter auch auf die Kultur, und prägende Erlebnisse wurden wissenschaftlich aufgearbeitet und ergeben ein immer geschlosseneres Bild der Zeit von 1945 bis 1955.

Das Standardwerk und den Klassiker schlechthin verfasste der Historiker Gerald Stourzh 1975, das 2005 zum fünften Mal überarbeitet wieder aufgelegt wurde und 831 Seiten umfasst (nunmehr mit dem Titel: Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945-1955).
Die Öffnung der Archive

Neue Aspekte ergeben sich nicht nur aus der einzigartigen (wenn auch subjektiv gefärbten) Quelle der Zeitzeugenbefragung (oral history), deren für die Zwischenkriegs- und Kriegsgeneration schon/bald mit dem Zeitfaktor zu kämpfen hat.

Wesentliche Impulse ergeben aber nicht nur die Biographien von Politikern und Persönlichkeiten, die am Aufbau des neuen Österreichs beteiligt waren (etwa Franz Olahs Erinnerungen, von denen man sich in den Punkten der amerikanischen Unterstützung gerne mehr Aufschlüsse erwartet hätte), sondern die Öffnungen der Archive und die Freigabe des Dokumentenmaterials der Besatzungsmächte.
Desiderate: russisches Archivmaterial

Dass freilich noch immer viele Fragen offen bleiben und die Wissenschaft in Details noch einiges aufzuarbeiten hat, wird etwa an der nur partiellen Öffnung der Moskauer Archive deutlich.

Hinsichtlich der Absichten Stalins und seiner Absichten für Österreich geht die Forschung heute von einer geplanten kommunistischen Machtübernahme (der erste Dämpfer waren die Novemberwahlen 1945) immer mehr ab; auch das Bedrohungsszenario eines Dritten Weltkrieges, der in der Nachkriegszeit immer wieder heraufbeschwört wurde, sieht die Wissenschaft heute differenzierter.

Die tatsächlichen Planungen lassen sich jedoch in vielen Bereichen nur aus Indizien und Parallelen erschließen, viele konkrete Unterlagen stehen der Wissenschaft noch nicht zur Verfügung. Und doch hat sich gerade der russischen Besatzungsmacht nicht nur im Gedenkjahr eine Fülle von wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet und neue Aspekte eröffnet.
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Aktuelle Neuerscheinungen zum Thema
Die Rote Armee in Österreich. Dokumente Sowjetische Besatzung 1945-1955, hrsg. v. St. Karner, B. Stelz-Marx, A. Tschubarjan. 2 Bde. (Beiträge und Dokumente). Oldenbourg Wissenschaftsverlag: München 2005

Manfried Rauchensteiner: Stalinplatz 4. Edition Steinbauer: Wien 2005

Marschik/Spitaler (Hg.): Das Wiener Russendenkmal. Verlag Turia und Kant: Wien 2005.
->   Weitere Information
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Besatzungsmacht USA

Die anfängliche Härte der amerikanischen Streitkräfte resultiert nicht zuletzt aus dem Einmarsch der "falschen Armee":

Nicht die für Österreich vorgesehene Armee aus Norditalien traf zuerst ein (erst im Juni 1945), sondern die für das besiegte Deutschland bestimmte wurde von Deutschland in den Süden verlegt (in diese Anfangszeit fällt auch das Trophäensammeln vor allem von Nazi-Insignien bis hin zu Kunstschätzen).

Sehr bald, bereits am 27. April 1945, kam es zur ersten Trübung des Verhältnisses zu Russland, als letztere im Alleingang die provisorische Renner-Regierung einrichteten.

Der in der Folgezeit eskalierende Kalte Krieg brachte Österreich vermehrte Zuwendung und Unterstützung Amerikas; man erkannte, dass ein Wiederaufbau notwendig war und dass man einer möglichen Spaltung Österreichs durch entschiedene Wirtschaftshilfe auch in der Ostzone vorbeugen musste (Marshall-Plan), zugleich war eine vor den Russen geheime Aufrüstung des Landes durch die so genannte B-Gendarmerie unterstützt worden.
Amerikanische Entnazifizierung

Besonderes Anliegen war auch den Amerikanern die Entnazifizierung, u.a. im Speziallager Glasenbach bei Salzburg (bis Herbst 1947 mit ca. 10.000 "Nazis"), bis man pragmatischer vorging und die Parteizugehörigkeit nach den Intentionen auszusieben begann.

Auch kam es - einerseits durch das Verbotsgesetz der Bundesregierung von Februar 1947, andererseits durch die neue "Gefahr" des Kommunismus - sehr bald zu einer neuen Prioritätensetzung (und im antikommunistischen Kampf waren die ehemaligen Nationalsozialisten durchaus wieder willkommene Mitstreiter).
Besatzungsmacht Frankreich

Die Franzosen wollten bei Ihrem Mitwirken am Aufbau des neuen Österreichs Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen: Um eine mögliche Anbindung an Deutschland mit allen Mitteln zu unterbinden, war man bemüht, das Nationalbewusstsein der Österreicher verstärkt zu fördern und damit Mahnungen der Zwischenkriegszeit wie jene André Tibals 1931 aufzugreifen.

Als Zeichen des guten Willens sollte in der eigenen Besatzungszone die Rückgabe Südtirols forciert werden (letztlich wollte man den Nachbarn Italien nicht verärgern, und auch die Zustimmung der drei anderen Alliierten wäre ausgeblieben).


Wiewohl gerade vor diesem Hintergrund ein freundliches Auftreten der Franzosen theoretisiert wurde, wurde dennoch nicht die Mitbeteiligung Österreichs am Krieg vergessen - mag Österreich 1943 in der Moskauer Erklärung auch als erstes Opfer der hitlerischen Angriffspolitik bezeichnet werden. Ein reziprokes Verhalten der Verachtung seitens der Besatzer und Besetzten war anfangs die Folge.
General Béthouarts Drohung

Als das geplante Freundschaftskonzept der Franzosen nicht wirklich aufging, sah sich der französische Oberkommandierende General Béthouart im September 1945 vor den Landeshauptleuten Tirols und Vorarlbergs zu folgender Drohung veranlasst:

"Da wir den ernsten Wunsch haben, Ihnen zu helfen, Ihr Land wieder aufzubauen, nachdem wir Sie von der Tyrannei befreit haben, obwohl wir das Recht hätten, Sie als Feinde zu behandeln, so haben wir um so mehr das Recht darauf, dass man uns versteht. Ich komme aus dem Jura, wo ich mit meinen eigenen Augen die Trümmer und die Trauer gesehen habe, die in diesem Teil Frankreichs von der Besetzung durch österreichische Truppen, wohlgemerkt durch Österreicher, herrühren!

Wenn die Haltung der Bevölkerung von Tirol und Vorarlberg mir nicht einen Beweis des guten Willens und der Disziplin gibt, werde ich nicht zögern, zur allgemeinen Kenntnis zu bringen, welches Verfahren diese Österreicher in Frankreich angewendet haben, und ich werde Namen nennen."
Besatzungsmacht Großbritannien

Als Großbritannien in den 2. Weltkrieg eintrat, war es drittgrößte Weltmacht; dies sollte sich ändern, als wirtschaftliche Probleme im Land 1946/47 das Land in eine bedrohliche Finanzkrise führten. Die Folge war der sukzessive Rückzug aus Besatzungsgebieten. Europa war in der Prioritätenliste hinter Empire und Commonwealth zurückgesunken.

Die Briten zeichneten sich durch eine harte, aber faire Haltung gegenüber den Österreichern aus. Das Verbot der Fraternisierung wurde im Herbst 1945 aufgegeben und das Verhältnis entkrampfte sich damit sehr bald.

Bemühungen galten der Entnazifizierung und Umerziehung, was mit Konsequenz durchgeführt wurde (Internierungslager für fast 7.000 Parteigenossen in Wolfsberg, Kärnten, das erst 1948 geschlossen wurde; 28.894 Verurteilungen, 42 Todesvollstreckung vor dem Militärgericht) - wiewohl man sich keinen Illusionen hingab: "once a nazi always a nazi ... loyalty can be expected only from the next generation".
Britische Beurteilung der Österreicher

Dass die Briten den Österreichern durchaus wohlgesinnt gegenübertraten, belegt eine Charakterisierung durch den ersten britischen Militärgouverneur, Oberst Alexander Wilkinson, vom 13. Juni 1945:

"Most of us have now seen enough of Austria to have learned ... that the Austrians are fundamentally honest and can be trusted; ... that they keep their houses spotlessly clean; ... that their administration system is a very good one and their officials appear to be very efficient; ... that most Austrians are well-educated and highly cultured; ... that some, at any rate, of the Austrians were fairly lukewarm Nazis."
Figl, Raab, Schärf und Kreisky 1955 in Moskau

Der Zeitzeuge und damalige Sekretär Bundeskanzler Raabs, Ludwig Steiner, gibt bemerkenswerte Details über die Reise von Vertretern der Bundesregierung nach Moskau (11.-15. April 1955) auf Einladung der Sowjets kurz vor dem Abschluss des Staatsvertrages:

"Da wir im Gästehaus der Sowjetregierung wohnen sollten, waren selbstverständlich Überlegungen zur Frage des Abhörens nötig. Wie sollte man innerhalb der Delegation diskutieren und Entscheidungen treffen können, wenn man befürchten musste, dass den Sowjets alles sofort bekannt würde. Für alle Fälle wurde ein Minerva-Radio mit Plattenspieler mitgenommen, damit man bei lauter Musik ungestört reden kann ..."
Molotows Empfang
Steiner berichtet im Rahmen des Moskauempfanges der österreichischen Bundesregierung von folgendem Vorfall am 13. 4. 1955, als mehr als die Hälfte der Themen des Staatsvertrages bereits verhandelt waren und der damalige Außenminister Molotow einen Empfang gab, in dem Außenminister Figl folgendes Gespräch führte:

"Herr Ministerpräsident Molotow, Sie können sich kaum vorstellen, wie beeindruckend für mich schon in der Zwischenkriegszeit der Name Molotow, der Hammer, war; ein Symbol der großen Sowjetmacht ...

Aber am meisten beeindruckt war ich, als wir einmal im KZ um fünf Uhr Früh bei eisiger Kälte am Appellplatz antreten mussten, gefroren haben wir - einige Häftlinge sind vor Schwäche umgefallen -, und dann haben wir nach Stunden plötzlich Ihre Stimme aus dem Lautsprecher des Konzentrationslagers gehört. Das war damals, als Sie den Vertrag mit Hitler abgeschlossen hatten.

Ich dachte, nun bricht die Welt zusammen, aber Molotow sagte nur "da, da" (ja, ja). Figl hatte damit signalisiert, wir wissen und erinnern uns, am Beginn dieses furchtbaren Krieges gab es den Hitler-Stalin-Pakt, und wir waren im KZ."
Die parteipolitische Ausschlachtung des Staatsvertrages
Als mit den Staatsvertragsverhandlungen Figl und Raab in aller Munde waren und von der ÖVP als "Helden der Stunde" gefeiert wurden, betrieb die SPÖ eine Gegenpropaganda und begann einen Bildersturm gegen diese Ikonen. Unermüdlich wurden Gegenbild mit Renner, Schärf und Kreisky aufgebaut.

Das Habsburgerverbotsgesetz, für dessen Verbleib im Staatsvertrag sich die SPÖ bedingungslos ausgesprochen hat, konnte medial wirksam ausgeschlachtet werden, unterstützt von Oskar Pollak in der Arbeiterzeitung.

Klug daher die Worte Raabs am 18. Mai 1955: "... Ich stelle fest, dass nachträglich auch in der sozialistischen Korrespondenz herumzudeuteln versucht wird, wie viel zentimeterweise an den Ereignissen der Moskauer Verhandlungen auf die eine oder andere Gruppe entfallen ... In Moskau ist die Delegation einheitlich und geschlossen aufgetreten, und die Beurteilung über den Anteil am Erfolg überlassen wir ruhig der Bevölkerung."
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Der Klassiker
Gerald STOURZH, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945-1955.
Böhlau Verlag: Wien 2005.
5. völlig überarb. u. wesentl. erw. Aufl. 831 Seiten, 12 S. SW-Abb.
ISBN 3-205-98383-1
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Stand der neuesten Forschungen
Manfried RAUCHENSTEINER, Robert KRIECHBAUMER (Hrsg.)
Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität
Böhlau Verlag: Wien 2005
564 Seiten, 64 SW-Abb.
ISBN 3-205-77323-3
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Prof. Manfried Rauchensteiner
Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien. Seit 1975 Universitätsdozent für Österreichische Geschichte in Wien und Innsbruck. Von 1988 bis 1992 Leiter des Militärhistorischen Dienstes im Bundesministerium für Landesverteidigung. Seit 1992 Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien. 1996 Außerordentlicher Universitätsprofessor.
->   Heeresgeschichtliches Museum
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Univ. Prof. Dr. Robert Kriechbaumer
Prof. für Neuere Österreichische Geschichte; geb. 1948 in Wels (Österreich), Studium der Geschichte, Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Salzburg und München, Stipendiat der Görres-Gesellschaft, der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Humboldt-Gesellschaft. Seit 1992 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek.
->   Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek
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Ausstellung zum Staatsvertrag

Das neue Österreich. Die Ausstellung zum Staatsvertragsjubiläum 1955/2005
Österreichische Galerie Belvedere, Wien
Prinz Eugen-Straße 27, 1030 Wien
www.belvedere.at

16. Mai bis 1. November 2005
Information und Buchungen
Tel: +43/1/79557-262, Fax: -136
info@dasneueoesterreich.at
->   Info zur Ausstellung
 
 
 
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