Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
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Die Wiener Germanistik in der Zeit 1938-1945  
  Eine aktuelle Studie zum Institut für Germanistik an der Universität Wien während der Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet die Karrieren und Forschungen der Lehrenden.  
Die Aufarbeitung der NS-Zeit

Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus in einem der zentralen Studienfächern stand dieses Jahr bereits im Mittelpunkt eines gelobten Romanerstlings der Salzburgerin Gudrun Seidenauer ("Der Kunstmann"). Irene Ranzmaier, Projektmitarbeiterin am Institut für Germanistik, legte nun das Ergebnis einer detaillierten Studie zu den einzelnen Lehrenden, ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus und dem Einfluss der Ideologie auf Lehre und Publikationen vor.

Ergänzt wird die Arbeit durch ein Interview mit Helmut Birkhan, der als Student die zum Teil rehabilitierten Professoren noch als Lehrende erlebt hat und seine Eindrücke von der Zeit nach 1945 wiedergibt.
Die Germanistik an der Universität Wien

Eingang Liebiggasse
Als die Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur 1850 geschaffen wurde (mit dem ersten Ordinarius Theodor Georg Ritter von Karajan, dem Urgroßvater von Herbert von Karajan), entwickelte sich die Germanistik in Wien von einer Hörerzahl von 20 bis 50 Studenten auf über 500 um die Jahrhundertwende. 1870 kam es bereits zur Gliederung in ältere und neuere deutsche Sprache und Literatur.

Mit Rudolf Much (1906 habilitiert) wurde das Seminar Germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde etabliert; aus der Schule Muchs, der selbst früh mit den Nationalsozialisten sympathisierte, gingen eine Reihe von Lehrenden hervor, die NS-Ideologien in ihren Forschungen nahe standen. 1933 zählte das Institut für Germanistik in Wien rund 1.000 Studenten, kurz darauf übersiedelte es vom Hauptgebäude in die Liebiggasse 5.
Die Universität Wien nach dem "Anschluss" 1938
Mit dem "Anschluss" kam es zur Umwandlung in eine Führeruniversität, bemerkenswerterweise schneller als im "Altreich". Die Universität wurde von einem als Führer geltenden Rektor geleitet, ab 1940 von dem Kurator der wissenschaftlichen Hochschulen in Wien. Die Mehrzahl der Lehrenden war dem Nationalsozialismus positiv gegenüber eingestellt, so dass es praktisch keinen Widerstand gab, auch nicht gegen "rassische" Verordnungen.

Antisemitismus und Antiliberalismus waren schon vor 1938 mehr oder weniger latent vorhanden. So reagierte man u.a. auf die Ermordung des Hauptvertreters des Wiener Kreises, des Naturphilosophen Moritz Schlick, am 22. Juni 1936 durch seinen Studenten Hans Nelböck mit einem diskriminierenden Verhalten gegenüber jüdischen Studenten und Lehrenden.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden 30 Prozent der Lehrenden an der Universität Wien wegen jüdischer Abstammung oder Gesinnungsfeindschaft entlassen.
Gedenktafel für Moritz Schlick in der Universität Wien
 


"Moritz Schlick, Protagonist des Wiener Kreises, wurde am 22. Juni 1936 an dieser Stelle ermordet. Ein durch Rassismus und Intoleranz vergiftetes Klima hat zur Tat beigetragen."
Fallbeispiel Eduard Castle
Castle gehörte zu jenen von den Nationalsozialisten entlassenen Lehrenden - in seinem Fall nicht aus rassischen Gründen sondern aufgrund ideologischer Inkompatibilität. Er war Mitautor und (Mit-)Herausgeber der "Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte" (1897-1937) im Geiste des Positivismus.

Beanstandet wurde neben seinem Wirken im Ständestaat u.a., dass katholische und jüdische Autoren zu gut behandelt wurden (siehe Infobox).

Die Tragik des Falles Castle: Der Universitätsverdienst war für ihn als Vater von vier Töchtern eine Überlebensfrage. So stellte er mehrmals Anträge auf Wiederanstellung, in denen er auch alle antisemitischen Stellen in der Literaturgeschichte auflistete (die jedoch aus Beiträgen anderer Autoren stammen). 1945 konnte er an die Universität Wien zurückkehren.
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NS-Kritik an Castles Literaturgeschichte
Zitat aus dem Schreiben des Reichsführers der SS an den Präsidenten der Reichsschriftumskammer (6.3.1939): "In dem Werk werden alle Juden in Abhandlungen gewürdigt, die in dem betrachteten Zeitraum auf das Geistesleben Österreichs eingewirkt haben. (...) Die Wertung dieser Personen ist kaum kritisch, geschweige denn ablehnend. Vielmehr wird eine ganze Reihe von Juden ausgesprochen positiv beurteilt."
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Die Germanistik unter den Nationalsozialisten

Das nunmehr so bezeichnete "Germanistische Institut" gliederte sich in vier Abteilungen: Neuere und Ältere deutsche Sprache und Literatur, Deutsche Mundartforschung und Phonetik sowie Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde.

Bei einigen Lehrenden war aufgrund ihrer Mitwirkung bei den illegalen Nationalsozialisten bzw. einer für den Nationalsozialismus ideal adaptierbaren Deutschtümelei ein starkes Nahverhältnis a priore gegeben; bei anderen Lehrenden dürfte - sofern ihre Publikationen nicht explizite Äußerungen machen - die wirkliche Einstellung oft zwischen Opportunismus und weltanschaulicher Überzeugung geschwankt haben.

Das fast obligatorische Ansuchen um Eintritt in die NSDAP ab 1938 mit entsprechend ausgefülltem Fragebogen ist unter diesem Gesichtspunkt oft nicht wirklich aussagekräftig. Es sollte freilich ab 1945 im Zuge der Entnazifizierung als Grundlage für die Entlassung, Sühnezeit bzw. Verbleib der Lehrenden an der Universität dienen.
Der Fall Josef Nadler
Nadler ist besonders an seiner vierbändigen "Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften" zu beurteilen, die auf der Theorie der durch die Umgebung unterschiedlich ausgeprägten Eigenheiten der deutschen Stämme und damit auf einer Stammesgliederung beruht.

Da das Werk in vier Auflagen (1. Aufl. 1912-1928; 4. Aufl. 1938-1941) erschien, lassen sich die Änderungen sehr gut nachvollziehen. Unverändert ist ein deutlicher Antisemitismus.

Nadler kann jedoch nicht schlechthin der Vorwurf einer NS-Germanistik gemacht werden, sein Konzept der Stammeskunde geht lange zurück, wiewohl sich Akzente im Rahmen der Literaturgeschichte unter den Nationalsozialisten deutlich verschoben haben: Als sich durch das neue Regime eine Möglichkeit bot, seine Theorien durchzusetzen, nutze er dies reichlichst aus - und dies war kein Einzelfall, was hinsichtlich der Germanistik vor 1938 zu denken gibt.
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Josef Nadlers Nachlass
Eine weitere Quelle zu Josef Nadlers Wirken, sein Briefnachlass, liegt in der Österreichischen Nationalbibliothek. Er umfaßt 4.706 Schriftstücke an und von Nadler. Unter den KorrespondentInnen finden sich Personen wie Robert Musil, Leopold Andrian-Werburg, Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel und auch Josef Weinheber oder Gertrud Fusseneger. Allerdings ist die Zeit von 1938-1945 mit auffallend wenigen Briefen vertreten.
->   ÖNB, Nachlass- und Autographenkatalog
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Entnazifizierung an der Universität Wien
Von der Registrierung und Dienstenthebung waren zunächst alle betroffen, die im Zeitraum vom 1.7.1933 bis 27.4.1945 Mitglieder der NSDAP oder eines ihrer Wehrverbände waren.

Eingerichtet wurden Sonderkommissionen vorwiegend aus der Professorenschaft zur Überprüfung inkriminierter Kollegen (für die Professoren mit einer ministeriellen Sonderkommission).

In der philosophischen Fakultät wurden von 70 (Extra)Ordinarien 31 entlassen, drei pensioniert und weitere zwölf noch genauer überpüft. 1947 und 1948 wurden "Minderbelasteten" Erleichterungen zuteil, 1957 erging die NS-Amnestie. An der Wiener Germanistik wurde die Hälfte der Lehrenden entlassen, u.a. Josef Nadler. Nach Wien wurde allerdings 1955 ein mit seiner Theorie der germanischen Männerbünde nicht minder belasteter Germanist, Otto Höfler, berufen.
Otto Höfler als Lehrender in Wien
Helmut Birkhan, ordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Germanistik, gibt in einem Interview am Ende der Studie einen Einblick in Höflers Lehre und Verhalten: "Otto Höfler hat später teilweise starke Reuegefühle gehabt und manchmal sogar vor seinen Schülern zu weinen begonnen. Überdies wollte er sich erstens nach dem Krieg umbringen und hat zweitens im Jahr 1947 ein Manuskript verfaßt: Über den Wahrheitsbegriff.

(...) Er hat ein (...) Gedankenexperiment gemacht: Wenn jemand am Tag des Kriegsendes um zehn Minuten vor Null seinen Vorgesetzten erschossen hätte, dann wäre er als Held gefeiert worden - als Widerstandskämpfer. Wenn er es zehn Minuten nach Mitternacht gemacht hätte, wäre er als Mörder angeklagt worden. Hier liegt sozusagen die Relativität des Wahrheitsbegriffs - und das war etwas, was Höfler wirklich sehr bewegt hat."

[30.8.05]
Neuerscheinung

Irene RANZMAIER
Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus
Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft
(Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 10)
2005. 214 Seiten
Wien: Böhlau
ISBN 3-205-77332-2
->   Info zum Buch
NS-Germanistik als Roman aufgearbeitet

Gudrun SEIDENAUER
Der Kunstmann. Roman
2005. 224 Seiten.
ISBN 3-7017-1402-9
Salzburg: Residenz Verlag
->   Info zum Buch
 
 
 
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