Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
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Die Literatur entdeckt die Naturwissenschaften  
  Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß werden in Daniel Kehlmanns neuem Roman zu prägnant und einfühlsam gezeichneten Romanhelden. So entsteht "en passant" ein mitreißendes Wissenschaftsbild. Am 21. September liest Kehlmann in der Österreichischen Nationalbibliothek aus seinem neuen Roman "Die Vermessung der Welt".  
Die Naturwissenschaft auf dem Bestsellermarkt
In den letzten Jahren haben die Naturwissenschaften nicht nur generell ein größeres Interesse des Buchmarktes erweckt; einzelne Werke, die Wissenschaft prägnant und für ein breiteres Publikum adäquat zu präsentieren vermochten, gelangten auf die Bestsellerlisten. So konnte auch die Physik bald neben der Geschichte und Archäologie eine breit gestreute Lesergruppe für sich gewinnen, wenn WissenschafterInnen zur Vermittlung ihres Fachwissens auch für diese Zielgruppe bereit waren.

Stephen Hawking hat mit seinem "Universum in der Nussschale" sicher eine neue Welle in Bewegung gesetzt. Einer der jüngsten Bestsellerautoren dieser Richtung ist Anton Zeilinger, der 2003 den Quantenphysikklassiker "Einsteins Schleier" publiziert hat.

Es war daher nur eine Frage der Zeit, wann auch das Leben der Wissenschaftler breites Interesse erweckt und literarisch aufgearbeitet wird. Daniel Kehlmann, selbst einer der jüngsten Bestsellerautoren Österreichs (Jahrgang 1975) hat sich nun in vortrefflicher Weise daran gewagt.
Die Vermessung der Welt
Kehlmanns Roman erzählt die Karriere und das Zusammentreffen zweier Granden der Naturwissenschaft, Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, und beweist einmal mehr, dass selbst Themen wie Mathematik, Geometrie und Physik mit der richtigen Präsentation ein kurzweiliges Lesevergnügen bereiten können.

Die Vorliebe für außergewöhnliche Persönlichkeiten findet sich in Kehlmanns Werk bereits mehrfach in brillanter und von der Kritik viel gepriesener Umsetzung mit dem Zauberkünstler Arthur Beerholm (1997: "Beerholms Vorstellung") oder zuletzt dem Maler Manuel Kaminski (2003: "Ich und Kaminski"). Die Physik stand bereits in Kehlmanns Roman "Mahlers Zeit" (1999) im Mittelpunkt.
Alexander von Humboldt, der Entdecker

Alexander von Humboldt (c/o ÖNB)
Kaum eine Naturwissenschaft, deren sich Alexander von Humboldt (14.9.1769-6.5.1859) nicht annahm, so wirkt er als Ethnograf, Anthropologe, Physiker, Geologe, Mineraloge, Botaniker, Vulkanologe und leistete maßgebliche Grundlagen für die Geografie, Klimatologie und Ozeanografie.

Seine Forschungsreisen nach Mittel- und Südamerika (1799-1804) und Zentralasien (1829) machten ihn zu Lebzeiten weltberühmt. Die Ergebnisse seiner Forschungen flossen in ein Kompendium des naturwissenschaftlichen Wissens seiner Zeit ein, den "Kosmos".

Ein Teil der ersten Reise widmete sich der vier Monate dauernden Erkundung des Orinoco über 2.775 Kilometer unerforschtes Gebiet, um die Verbindung von Orinoco und Amazonas nachzuweisen. Der rastlose Humboldt hinterließ eine wissenschaftliche Korrespondenz von rund 35.000 Briefen mit den internationalen Größen seiner Zeit.
Carl Friedrich Gauß, das Mathematikgenie

Carl Friedrich Gauß
Gauß (30.3.1777-23.2.1855) war das kritische Mathematik-, Astronomie-, Geodäsie- und Physikgenie, das mit der Publikation seiner Ergebnisse sehr zurückhaltend war (sein Motto lautete: "pauca, sed matura" - "weniges, aber ausgereift"). Er feilte lange an seinen Theorien, ehe er sie zu veröffentlichen wagte und vorläufig bloß in seine Tagebücher eintrug.

Die Folge dieser Zurückhaltung war, dass Gauß die Resultate von Fachkollegen als längst von ihm selbst erforscht ausgab. Die Kritik der Geltungssucht wurde daher sehr bald laut.

Doch der Nachlass seiner 20 Tagebücher sollte beweisen, dass er die behaupteten Beweise tatsächlich erbracht hatte. Der großartigen wissenschaftlichen Leistung stehen private Schicksalsschläge gegenüber: Seine beiden Frauen überlebt er. Seine Kinder waren den Forschungen des Vaters zu seinem Bedauern nicht gewachsen.
Zwei konträre Charaktere
Das Treffen der beiden Koryphäen 1828 in Berlin (Gauß folgte einer Einladung Humboldts und war sein Gast vom 14.9. bis 3.10.) bot den äußeren Rahmen, das Leben zweier konträrer Charaktere in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn und in ihrem privaten Umfeld zu einem gelungenen Roman aufzuarbeiten:

Humboldt, der rastlose und eitle Wissenschafter im willkommenen Gefolge von Staatsmännern, und Gauß, der kritische Geist in jeder Hinsicht, der sich derartige Eitelkeiten versagt, lieferten mit ihren Werken und den über sie verbreiteten Geschichten und Anekdoten ein ideales Ausgangsmaterial.

Der Rest ist von Kehlmann in Auseinandersetzung mit den beiden Charakteren ausgeschmückt - in idealer Auswahl jener Ereignisse, die mit wenigen Zügen die Charaktere plastisch vor Augen treten lassen.
Der hehre Blick auf die Koryphäen
Wie hat man mit solchen außergewöhnlichen Genies umzugehen, um nicht ins rein Wissenschaftliche abzugleiten oder an den historischen Gegebenheiten durch erfundene Charakterzüge vorbeizuschreiben?

Kehlmann beweist hier, wie schon bei der Aufarbeitung der oben erwähnten Persönlichkeiten, den Blick für das Ganze und den Zugang zu den Genies durch seinen feinen ironischen Stil:

Die wissenschaftliche Heroen bleiben die Koryphäen, deren Wissen verstummen lässt, doch der Weg zum Ergebnis wird in dem ihnen eigenen Agieren und Auftreten vor Augen geführt.
Etwa wenn sich Humboldts Begleiter auf seiner Amerika-Reise, der französische Botaniker und Arzt, Aimé Bonpland, immer wieder wundert, weshalb man ihn nicht gleichberechtigt behandelt.
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Unterschrift Humboldts (c/o ÖNB)
Das Empfehlungsschreiben des spanischen Ministers (S. 44)
"Nie zuvor hatten Ausländer solche Papiere bekommen. Baron von Humboldt und seinem Assistenten sei jede Unterstützung zu gewähren. Sie seien zu beherbergen, freundlich zu behandeln, hätten Zugang zu jedem Platz, der sie interessiere, und könnten auf allen Schiffen der Krone reisen.
Nun, sagte Humboldt, müssten sie nur noch durch die englische Blockade.
Bonpland fragte, wieso da Assistent stehe.
Wisse er nicht, sagte Humboldt geistesabwesend. Ein Missverständnis.
Könne man das noch ändern?
Humboldt sagte, das sei kein guter Einfall. Solche Präsente seien ein Geschenk des Himmels. Das stelle man nicht in Frage, damit mache man sich auf den Weg."
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Unterschrift Gauß (c/o ÖNB)
Gauß im Dialog mit Humboldts Bruder, dem Staatsmann und Geisteswissenschafter Wilhelm (S. 159):
"Gauß, der zuvor nicht zugehört hatte, bat den Diplomaten, seinen Namen zu wiederholen.
Der Diplomat tat es mit einer Verneigung. Er sei übrigens auch Forscher!
Neugierig beugte Gauß sich vor.
Er untersuche alte Sprachen.
Ach so, sagte Gauß.
Das, sagte der Diplomat, habe enttäuscht geklungen.
Sprachwissenschaft. Gauß wiegte den Kopf. Er wolle ja keinem zu nahe treten.
Nein, nein. Er solle es ruhig sagen.
Gauß zuckte die Achseln. Das sei etwas für Leute, welche die Pedanterie zur Mathematik hätten, nicht jedoch die Intelligenz. Leute, die sich ihre eigene notdürftige Logik erfänden.
Der Diplomat schwieg."
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Die Wissenschaft im Wandel

Alexander von Humboldt (c/o ÖNB)
Kehlmanns Darstellung, die abwechselnd Stationen aus dem Leben der beiden Wissenschafter beschreibt, wird durch die beiden Reisen Humboldts nach Mittel- und Südamerika sowie nach Zentralasien umrahmt.

Damit gelingt ihm im zweiten Teil auch ein gelungenes Kontrastbild des Wissenschaftlers nun am Gängelband der Macht: Humboldts Asienreise als Medienspektakel unter der Aufsicht des Zaren, der keine Kritik an der Despotie durch Humboldt erduldet, der sich selbst immer wieder gegen Unterdrückungen zu Wort meldete - als Gegenstück zur Forschungsreise in Amerika im ersten Teil.

Dieses Konterkarieren führt unterschwellig auch die Änderungen der wissenschaftlichen Bedingungen vor Augen, Humboldts Forschung überholt sich mittlerweile durch den Fortschritt selbst, selbiges muss auch Gauß erfahren. Kehlmann bringt Humboldts Enttäuschung und seinen Versuch, den veränderten Verhältnissen zu entfliehen, durch einen eindrucksvollen Dialog mit seinem Begleiter, dem Mineralogen Gustav Rose, zum Ausdruck, ehe ein Epilog den Wandel der Naturwissenschaften aus dem Blickwinkel von Gauß' Sohn Eugen abschließend beleuchtet.

[20.9.05]
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Info zum Buch
Daniel Kehlmann
Die Vermessung der Welt

304 Seiten, Hardcover
Reinbeck: Rowohlt 2005
ISBN 3-498-03528-2
->   Rowohlt-Verlag
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Lesetournee, Start in Wien
Daniel Kehlmann startet am Mittwoch, 21. September, seine Lesetour zum neuen Roman. Erster Termin ist in seiner Heimatstadt Wien, in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Josefsplatz 1, Camineum, 19.00.
Einleitung Thomas Glavinic.
EINTRITT FREI.
->   Literatursalon der Österreichischen Nationalbibliothek
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->   Mehr über Alexander von Humboldt in Wikipedia
->   Mehr über Carl Friedrich Gauß in Wikipedia
 
 
 
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