Christian Gastgeber
Österreichische Nationalbibliothek
BIBLOS-Redaktion und Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Byzanzforschung
 
ORF ON Science :  Christian Gastgeber :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Literatur in Österreich: Die Generation der "Zugereisten"  
  Seit einiger Zeit wird die österreichische Literaturgeschichte durch neue AutorInnen mit MigrantInnenhintergrund verschiedenster Länder bereichert. Milo Dor hat nun aus diesen beeindruckenden literarischen Talenten, vorwiegend jungen AutorInnen, eine Anthologie herausgegeben.  
Milo Dor - ein Zugereister und ein Heimischer

Milo Dor (c/o Larry R.R. Williams)
Milo Dor, der Herausgeber, ist das ideale Vorbild dieser neuen SchriftstellerInnen- und DichterInnengeneration. Denn selbst ist er ein "Zugereister", für den der Begriff Heimat bereits schwer zu definieren ist: geboren 1923 in Budapest, aufgewachsen in Groß-Betscherek und in Dörfern des Banats sowie der Batschka, übersiedelt er 1933 nach Belgrad.

Dort erwarteten ihn Repressalien infolge von politischen Tätigkeiten: 1942 verhaftet, 1943 nach Wien zwangsdeportiert. Nach dem Krieg Studium der Theaterwissenschaft und Romanistik. Seit den späten 40er Jahren als Übersetzer, Prosaiker, Drehbuchautor und Verfasser von Hörspielen ein Teil der österreichischen Literaturgeschichte. Er lebt in Wien und Rovinj (Kroatien).
Literatur aus dem "MigrantInnenhintergrund"

Dimitré Dinev 2000, Preisverleihung des Literaturpreises "Schreiben zwischen den Kulturen".
Es entsprach so gar nicht dem medial verbreiteten Klischee, dass MigrantInnen einen kulturellen Beitrag lieferten und literarische Denkanstöße gaben, die von den Erfahrungen ihrer Kultur, von ihren Erlebnissen und nicht zuletzt von ihrem Schicksal geprägt waren. Man nimmt sie wahr, wenn sie berühmt wurden und Bestseller schrieben - nunmehr gerne als österreichische Autoren mit "ausländischer Herkunft" tituliert.

Einige dieser AutorInnen haben somit ihren fixen Platz in der österreichischen Literaturgeschichte der Gegenwart, wie Doron Rabinovici ("Suche nach M.", "Ohnehin"), Vladimir Vertlieb ("Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur"), Radek Knapp ("Herrn Kukas Empfehlungen", "Papiertiger"), Dimitré Dinev ("Engelszungen", "Ein Licht über den Kopf") oder zuletzt der Perser Hamid Sadr mit dem "Gedächtnissekretär".
Die "interkulturelle Schreibwerkstatt"

edition exil: die inschrift, erzählungen 2001
Der Förderung von LiteratInnen aus dem Migrantenumfeld nahm sich seit 1995 das Amerlinghaus Wien an, indem sich auf Initiative von Christa Stippinger "zugewanderte" AutorInnen oder mit Interesse am Schreiben wöchentlich zum Erfahrungsaustausch und zur gegenseitigen Auseinandersetzung trafen.

Zur Förderung dieser literarischen Zimelien wurde ein jährlicher Literaturwettbewerb und die "edition exil" ins Leben gerufen, immer mit dem Volleinsatz Stippingers. Der erste Band der Anthologiereihe mit den besten Texten der WerkstattautorInnen erschien 1996 unter dem Titel "Jeder ist irgendwo ein Fremder" und gab im Aufbau bereits die charakteristische Form der Edition Exil-Anthologien vor: Auf den Beitrag folgten immer Interviews mit den AutorInnen, die in ihre Schreib- und Lebenssituation einführten.

Dimitré Dinev etwa wurde von der Edition Exil entdeckt und dann an den Deuticke-Verlag weitervermittelt, um - uneigennützig - durch einen Verlag mit breiter Publikumswirkung die literarische Karriere des großartigen bulgarischen Prosaikers zu fördern.
Denis Mikan (Montenegro)
 


Lesung im Frühjahr 2004 im Amerlinghaus
Die neuen Talente

Edition Exil: Anthologie zum Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen" 2001
Milo Dor, der bei seiner Anthologie zum Teil auf Texte dieser Wettbewerbe der Edition Exil zurückgriff, ist es zu verdanken, dass herausragende neue Talente nun eine Möglichkeit erhalten haben, einem größeren Leserkreis bekannt zu werden.

Immer wieder stehen in diesen Texten Themen der nationalen Identität, der Auseinandersetzung mit der alten und neuen Kultur sowie der Vergangenheit - aber nicht nur solche! - im Mittelpunkt, und dies in den verschiedensten Stilen: bald poetisch-assoziierend (ganz grandios der türkische Autor Ercüment Aytac oder Julya Rabinowich), bald ironisch (etwa die "Arrivierten" Radek Knapp oder Dimitré Dinev), bald im schlichten faktenbezogen Erzählstil (und umso intensiver wirkend, etwa Ivan Ivanji oder Sanja Abramovic).

Der kurdische Autor Sedat Demirdegmez zeigt in seiner Erzählung "Wahrscheinlichkeit" den Kulturverlust in der Fremde sehr anschaulich mit seiner Hauptfigur, die unter Lebensgefahr aus der Türkei flieht und sich in Wien einer kurdischen Gruppe anschließt.
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Edition Exil: "Schreiben zwischen den Kulturen" 1997
"Ich nehme meine Zigaretten aus meiner Handtasche und biete allen, die gerade keine in der Hand haben, eine an. >Danke, ich habe meine eigenen<, sagt einer, und der Zweite sagt das Gleiche. Hier biete man anscheinend nur dem Zigaretten an, der keine hat.

Viele stellen Fragen stellen Fragen über die politische Lage in Kurdistan und bringen Lösungsvorschläge. Sie machen einen Doppelliter Wein auf und diskutieren über Politik. Sie sind sehr interessiert. Ich bin erstaunt, dass sie Alkohol trinken, während sie über Politik sprechen, und mit roten Augen über Werte urteilen, für die ich gekämpft habe.

Die Diskussion hat kein Ende. Ich möchte gehen. Als wir uns verabschieden, steht wieder niemand auf."
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Die Erwartungshaltung an die MigrantInnenliteratur

Ercüment Aytac (Türkei)
Diese Themen sind - und darauf legen diese AutorInnen auch zu Recht großen Wert - nur eine Seite ihres literarischen Schaffens. Sie wollen ebenso als Künstler das Recht haben die Schablone der MigrantInnenbeiträge zu durchbrechen, wie Ercüment Aytac im Interview erklärt:

"Ich lege mich trotz der allgemeinen Erwartungshaltung von einem Migranten nicht auf ein bestimmtes Themengebiet fest. Nach vierzig Jahren Migrationsgeschichte ist Integration immer noch das Top-Thema in Österreich, was ich traurig finde. Wenn dieses Thema unaufhörlich allgegenwärtig ist, dann deutet es auf die Verschlossenheit der Masse hin. In der Literaturszene gibt es zwar mehr Aufmerksamkeit, aber man erwartet sich von den Migranten nur das eine Thema, wie 'kalt' der Westen ist, wie fremd sie sich hier fühlen, wie wenig ihrer Gefühle sie anbringen können.

Diese Erwartungshaltung ist wiederum die Folge der Verschlossenheit, auch wenn es gut gemeint ist, und sie wirkt als eine Barriere. Wir Künstler sollen diesen Hindernis überwinden. Wir sollen aufhören, ewige Integrationsobjekte zu sein, indem wir uns anderen zeitkritischen Themen widmen.

Das wäre ein besserer Beitrag zur Integration als immer nur Betroffenheitsliteratur, denn es würde durch die Themenvielfalt eine emotionale Sicherheit entstehen, und zwar für alle Seiten, weil man dadurch viel mehr Gemeinsames zeigt.

Im Mittelpunkt steht die Lust am Schreiben. Das Spiel mit der Sprache. Die künstlerische Selbstverwirklichung. Und vor allem: das Recht zum Träumen."
Die Erfahrungen - nicht als MigrantInnengeschichte

Julya Rabinowich
Eine Autorin, deren Anthologiebeitrag genau in diese Richtung geht, ist Julya Rabinowich; 1970 in St. Petersburg geboren und 1977 nach Wien emigriert. Aus einer Künstlerfamilie stammend, wanderte die Familie 1977 unter immer bedrückenderen politischen und sozialen Verhältnissen aus. Wien sollte Zwischenstation sein und wurde dann doch zur neuen Heimat.

Der Herausforderung der neuen deutschen Sprache stellt sie sich mit vollem Ehrgeiz, bis sie Klassenbeste wurde. Nach ersten Erfolgen kommt die Auflehnung gegen die Eltern. Der Vater stirbt, die Tochter geht auf bewusste Distanz bis hin zum völligen Zerwürfnis mit der Mutter.

"Ich war Punk, Grufti und Hippie und habe auf der Straße gelebt. Im Endeffekt habe ich mehrere Szenen und schlimme Schicksale kennen gelernt." Mit eigener Kraft rafft sie sich aus dem Abgrund auf. Die Schwangerschaft und eine schwere Herzkrankheit bringen sie mit 25 Jahren wieder mit der Mutter zusammen. Ihre Lebenserfahrungen sind nun das Thema ihrer Texte, wie in "Abgebissen nicht abgerissen".

"Ich habe in meinem Leben so viele verschiedene Welten auf unterschiedlicher Ebene passiert - von der Emigration über die verschiedenen Szenen in Wien - und nun endlich war ich in einem neuen Lebensabschnitt angelangt. Über diese Zyklen schreibe ich jetzt, denn über die Zeit hat sich viel Material angesammelt".
Der Umgang mit der deutschen Sprache

Edition Exil: Anthologie zum Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen" 2004
Alle Autoren zeichnet aus, dass sie Deutsch bis zur Perfektion gelernt hatten und anwenden, um nicht nur einfach zu schreiben, sondern auch mit der Sprache als Ausdruck des seelischen Empfindens zu arbeiten.

Julya Rabinowich beschreibt ihren Zugang zu Deutsch, als sie mit sieben Jahre in eine österreichische Schule kam, folgendermaßen: "Deutsch konnte ich kaum, aber mit großer Anstrengung habe ich das Jahr trotzdem geschafft. Dann habe ich beschlossen, perfekt Deutsch zu lernen, weil ich bemerkt habe, dass ich zusammen mit den Türken und Jugoslawen das absolute Schlusslicht in der Rangordnung innerhalb der Klasse eingenommen habe.

Ich habe mir überlegt, was wir gemeinsam hatten. Neben der schlechteren Kleidung hatten wir alle Probleme mit der deutschen Sprache. Dass ich mir keine bessere Kleidung leisten konnte, war mir klar. Deshalb wollte ich wenigstens alles tun, was ich selbst beeinflussen konnte, um mich an die deutschsprachigen Kinder anzupassen."
Schreiben als Selbstfindung

Edition Exil: Anthologie zum Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen" 2003
Sanja Abramovic, 1982 in Karlovac (Kroatien) geboren, verließ ihre Heimat 1991 in Folge der Kriegshandlungen und kam in das Burgenland. Ihr Text "Mosaiksteinchen" beschreibt den Weg aus der alten Heimat in die neue und den allmählichen Verlust der eigenen Kultur:

"Die Vergangenheit verblasst und entgleitet uns. Heute ist mir meine Muttersprache wichtig, auch wenn es schon lange nicht mehr meine Sprache ist, in der ich denke. Ich spreche sie mit einem nicht auffälligen, aber merkbaren Akzent. Das Gleiche gilt für mein Deutsch. Ich befinde mich ganz und gar im Niemandsland, aber trotzdem habe ich das Gefühl, mich nun zum ersten Mal selbst zu kennen - wenigstens ein bisschen."

Ihr Schreiben wirkte, wie im eben zitierten Schlusswort ihres Beitrages angesprochen, als Therapie: "Über mich selbst habe ich eigentlich nicht geschrieben. Wenn man mir gesagt hat, ich soll über mich selbst oder über meine Heimat schreiben ... habe ich angefangen, über mich selbst nachzudenken ... Während des Schreibens habe ich dann zu weinen begonnen. Das war auch bei dem eingereichten Text [Mosaiksteinchen] so.

Mittlerweile sehe ich das auch gar nicht mehr als literarisches Schreiben an. Da geht es vielmehr darum, mit mir selbst ins Reine zu kommen. Normalerweise macht man das ja nicht, dass man sich hinsetzt und darüber nachdenkt, wo komme ich her und was hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Was man beim Schreiben erfährt, ist überwältigend, es wirkt befreiend".
Thematische Impulse
Dass mit diesen AutorInnen neue Themen und Impulse in die österreichische Literatur kommen, ist offenkundig; und es macht den Reiz dieser AutorInnen - und sicher auch ihres Erfolges - aus, dass immer wieder auch Spuren der kulturellen Vergangenheit oder bewusst gewahrten Gegenwart die Sprache und das Denken bestimmen, wie Sedat Demirdegmez in einem Interview zum Ausdruck bringt:

"Ich schreibe nur auf Deutsch. Ich habe in einem Kurs und dann mit eigenen Möglichkeiten Deutsch gelernt. Die Fremdsprachen interessieren mich sehr. Das Thema das mich bei Schreiben interessiert ist; die Grenzen. Die Grenzen waren immer in meinem Leben ein Hindernis. Physische Grenzen und Moralgrenzen im Kopf. Dieses Thema möchte ich auch in der Zukunft bearbeiten.

Ich versuche die orientalischen Elemente in einer europäischen Sprache zu übersetzen. Ich denke auf kurdisch und schriebe auf Deutsch. Es entsteht eine ungewöhnliche Art, die aber nicht so fremd ist. Ich empfinde es so."

Daran schließt sich sein Wunsch an: "Mit meiner Literatur möchte ich Menschen auf eine phantasievolle Art zum denken zu bringen. In Österreich denken Menschen sehr mechanisch. Den Menschen in Österreich fehlen Phantasien und das Leben kann man ja nicht wiederholen damit Menschen neue Phantasien und Gefühle erlangen können."

[5.10.05]
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Lesungen in der Österreichischen Nationalbibliothek
Literatursalon ÖNB und Picus-Verlag

Milo DOR präsentiert seine Anthologie "Angekommen"
Lesung von Radek KNAPP, Doron RABINOVICI, Vladimir VERTLIB, Sedat DEMIRDEGMEZ, Ercüment AYTAC und Julya RABINOWICH
Einleitung: Norbert MAYER (Die Presse)

Mittwoch, 5. Oktober 2005
Camineum (Josefsplatz, 1010 Wien), 19 Uhr

Eintritt frei
->   Literatursalon ÖNB
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Angekommen

Texte nach Wien zugereister Autorinnen und Autoren:

Mit Beiträgen von Milo Dor, Sedat Demirdegmez, Youngsook Kim, Julya Rabinowich, Sanja Abramovic, Ercüment Aytac, Boris Bitsoev, György Sebestyén, Sina Tahayori, Dimitré Dinev, Maja Hanauska, Ivan Ivanji, Radek Knapp, Marian McMlynek, Denis Mikan, Magda Woitzuck, Doron Rabinovici, Vladimir Vertlib.

200 Seiten, ISBN 3-85452-489-7
Wien: Picus-Verlag 2005
->   Info zum Buch
Edition Exil

Edition Exil: Anthologie zum Literaturpreis "schreiben zwischen den Kulturen" 2002
Die "Edition Exil", gegründet 1997, versteht sich als Kleinverlag, der vor allem AutorInnen, die nach Wien zugewandert sind, oder einer ethnischen Minderheit angehören, Möglichkeit zur Veröffentlichung ihrer Texte bietet.

Migrations- und Emigrationserfahrungen, Exil und Rückkehr, leben zwischen Kulturen sowie aktuelle Themen im interkulturellen Kontext sind Schwerpunktthemen des Verlages.
->   Info zur Edition Exil
Migrantenliteratur zum Entdecken

Ivan Ivanji
Die Tänzerin und der Krieg
Roman
320 Seiten
ISBN 3-85452-456-0
Wien: Picus-Verlag
->   Info zum Buch
Migrantenliteratur zum Entdecken

Ivan Ivanji
Der Aschenmensch von Buchenwald
Roman
160 Seiten
ISBN 3-85452-429-3
Wien: Picus-Verlag
->   Info zum Buch
 
 
 
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