Christian Gastgeber
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Gedenken an Hilfsaktion der Schweiz nach 1945  
  Nach 1945 hat die Schweiz eine Hilfsaktion für rund 10.000 Kinder verschiedenster Nationen gestartet. Ihnen wurde zumindest für kurze Zeit ein Aufenthalt in einer heilen, vom Krieg unversehrten Welt ermöglicht. Am 3. November treten ehemalige "Schweizerkinder" aus Österreich die Zugsreise nach Bern an, um im Rahmen einer Festveranstaltung dieser für viele Kinder lebensrettenden Initiativen und prägenden Erlebnisse zu gedenken.  
Die Erinnerung an die Schweizer Zeit

Anton Partl und Walter Pohl haben nach einigen bereits publizierten Monographien einzelner "Schweizerkinder" nun eine Sammlung von Aufzeichnungen und Berichten der Betroffenen passend zum Jubiläumsjahr 2005 zusammengestellt - auch als Zeichen der Dankbarkeit für die Hilfsaktion und mit all den Schwierigkeiten, die eine völlige neue Kultur für die oft traumatisierten Kinder bedeutete.
Die Hilfe der Schweiz in Österreich

Empfang in der Schweiz
Mit dem Sommer 1945 begann sich die Schweiz bereits mit Spendenaktionen in Form von Naturalien, Essen sowie Medikamenten intensiv um das Nachbarland zu kümmern. Die ersten Kindertransporte fuhren von Innsbruck und Umgebung am 22. Oktober 1945 ab, es folgten Linz, Salzburg und am 22. November Wien (dann Niederösterreich und 1946 die Steiermark).

Organisiert wurden die Transporte von der Wiener Delegation des Schweizerischen Roten Kreuzes. Die Aktion der "Schweizer Spende" dauerte bis 1948 (umfasste 35.525 Kinder). Nach der Auflösung setzten andere Hilfsorganisationen dieses Werk fort, im Rahmen der "Schweizer Europahilfe".
Der Ablauf

Buchs, Zwischenstation
Für den Transport wurden vom Roten Kreuz nach Anmeldung unterernährte (österreichische) Kinder, die sonst einigermaßen gesund waren, aufgenommen. Die Aufnahme entschied eine Gesundheitsuntersuchung. Für den Aufenthalt in der Schweiz wurde eine genaue Liste von mitzubringenden Gegenständen ausgegeben. Man instruierte die Kinder im richtigen Benehmen und als Kulturbotschafter in österreichischen Volksliedern sowie in einem Crashkurs Schwyzerdütsch.

Die Sammelstelle für die Abfahrt in Wien war das Palais Liechtenstein, von wo die Kinder zum noch intakten Franz-Josefs-Bahnhof gebracht wurden. Im Schweizer Grenzbahnhof Buchs wurden die Kinder noch einmal von Schweizer Ärzten untersucht, "desinfiziert" und ordentlich verköstigt. Von Buchs wurden sie schließlich mit den Schweizer Bahnen zu ihren Pflegeeltern (mindestens für drei Monate; bei längeren Aufenthalten auch mit Schulbesuch) weitergeschickt.
Die Situation in Wien nach 1945

"Schweizerkind" beim Mittagstisch
Robert Freund (Jg. 1932): "... erinnere ich mich, dass ich nichts ahnend in die Wohnung der Hausmeisterin hineinschlenderte und die Hausmeisterin quer über ihr Bett hingestreckt fand, mit einem Loch in der Stirn ...

Ich nahm das alles gelassen auf; ebenso, dass eines Tages ... vor der Eingangstüre zu unserer Baracke, quer über den Weg, ein toter junge Russe lag. Man gewöhnt sich an alles - und auch ich als Kind stieg halt darüber!"
Hungersnot in Wien

Essen in Wien
Anton Partl (Jg. 1937): "Vater war so schwach, dass er sich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn sich stundenlang anstellen konnte. Er hatte ein Körpergewicht von kaum über 40 Kilogramm. ... Wie sehr die Erwachsenen damals Hunger gelitten hatten, wird mir an einzelnen Erzählungen bewusst, etwa, wie ich Vater beim Verzehr eines verfaulten, mit Schimmel völlig überzogenen Apfels zusah ..."

Robert Freund: "... Nun begann ich ..., mich jeden Tag zeitig in der Früh ... oben auf der Höhenstraße bei der Wiese, nahe bei der Küche einzufinden. Wir wählten dabei genau die Stelle, wo die Soldaten vorübergingen, um die Reste ihres Frühstücks in die Tonne zu werfen. Wir passten die Soldaten ab, damit sie die Speisereste von ihren Blechtellern ja nicht in die Tonne schleuderten, sondern uns erlaubten, sie vom Militärteller herunter und in ein Geschirr hineinzukratzen ..."
Ein Wiener Essenplan
 


Ilse Sakouschegg (Jg. 1940): "Wir aßen vorwiegend Erbsen und Bohnen, Kartoffeln, etwas Gemüse der Saison und Mehlspeise aus dunklem Mehl ohne viel Fetter und Zucker. Die getrockneten Erbsen, als so genannte "Maispende" der Russen in die zeitgeschichtliche Literatur eingegangen, waren ursprünglich für die Tiere im Schönbrunner Tiergarten bestimmt.

Die Erbsen mussten über Nach eingewässert werden, tags darauf schwammen unzählige Würmer an der Wasseroberfläche, nach Entfernung der ungewünschten 'Fleischbeigabe' mussten sie stundenlang gekocht werden, um überhaupt genießbar zu sein."
Der Vorbereitungskurs
Anton Partl: "Es gab auch einen Schweizer Vorbereitungskurs, bei dem wir ein - meiner Meinung nach sehr unpassendes - Wienerlied lernen mussten:

'Jedem Wiener glänzt das Auge ... da schaut der Steffl lächelnd auf uns nieder, und denkt sich still der stolze Dom ...' (der zu dieser Zeit ja zerstört war).

Ferner mussten wir den Schweizer Gruß 'Grüezi' üben. Eine ebenfalls unnütze Sache; von den Kindern wurde das mit dem damals unbeliebten Grundnahrungsmittel Grütze assoziiert."
Das Sprachproblem

Abschied von den Pflegeeltern
Anton Partl: "Gleich nach meiner Ankunft ... kamen mehrer Frauen, um den Österreicherbub zu beäugen. Die ersten Worte, die ich auf Schwyzerdütsch dabei aufschnappte, waren die Frage an die Mutter: 'Kann er Dütsch?' Und diese antwortete: 'Nei, er kann nüd Dütsch.'

Völlig verunsichert dachte ich: 'Hieß das nicht soeben, ich könne nicht Deutsch?' Dabei hatte ich noch vor gar nicht so langer Zeit das 'Deutschlandlied' gesungen."
Vermittlung der Israelitischen Kultusgemeinde in die Schweiz
Hans Gamliel (Jg. 1940; der Großteil der Familie wurde in Konzentrationslagern getötet): "Es war kurz, nachdem Hans ... in Basel angekommen war. Frau Gradwohl wollte ihn in der Badewanne waschen. Hans legte seine Kleider ab, stieg in die Wanne. Sie wollte mit dem Waschen beginnen, wich aber zurück, einen Schrei ausstoßend, einen Schritt von der Wanne zurück.

Während sie ihren Blick erschrocken am Körper von Hans hinabgleiten ließ, sah er sie mit großen, verständnislos blickenden Augen an. ... Sie frage Hans in schroffem Ton, ob er denn Christ und nicht Jude sei? Hans sah Frau Gradwohl verdutzt an, denn er verstand nicht, was sie eigentlich von ihm wissen wollte. ...

Gradwohls sahen ein, mit der Befragung des Knaben keine sie befriedigende Antwort zu bekommen, und sandten umgehend ein Telegramm an seine Mutter nach Wien. In diesem fragten sie, ob Hans Jude und warum dann nicht beschnitten sei. ... Ihr [der Mutter] Schreiben bestand aus wenigen Fragesätzen. Im Mittelpunkt stand die Frage, bei welcher Gestapostelle sie auf der Flucht den Antrag zur Beschneidung ihres Sohnes nach jüdischer Tradition hätte stellen sollen ..."
Das "Paradies"

Abschied von den Pflegeeltern
Anton Partl: "Von einem Besuch bekam ich die erste Banane meines Lebens geschenkt. Ich habe sie unmittelbar nach dem Mittagessen gegessen, mein schwacher Magen war offenbar nicht darauf eingestellt, und ich musste erbrechen. Ich höre noch heute die ungehaltene Stimme der Schwester [im Kantonsspital], als sie rief: 'Bitte, bitte, der hat gespieben!' Dass man die Banane erst schälen muss, zeigte mir übrigens der Bub im Nachbarbett."

Irene Hammermüller (Jg. 1942): "... Dieses Badezimmer war eine Sensation für mich! Fließendes warmes und kaltes Wasser, eine Badewanne, eine Waschmuschel und ein Bidet. Das war unvorstellbar für mich, dass man so reich sein konnte, um sich ein Bad und fließendes warmes und kaltes Wasser leisten zu können."

Wilma Sighartsleitner (Jg. 1935): "Ich bekam nach und nach lauter schöne Sachen zum Anziehen. Morgens weckte mich der Duft von frisch gebackenen Brot und 'Mutschli', den ich bis heute nicht vergessen habe. Zum Frühstück gab es 'Mutschli' mit Butter und Konfitüre und frische Pariser Kiperln - ich habe nie bessere gegessen -, und auch das Brot war das beste, das ich jemals verzehrt hatte. Dazu tranken wir Ovomaltine."
Ein Resümee
Ilse Sakouschegg: "Aus meinem Aufenthalt in der Schweiz habe ich unendlich viel gelernt. Ich habe erlebt, dass andere Menschen eine andere Sprache sprechen, wenn auch das Schwyzerdütsch dem Hochdeutsch sehr ähnlich ist. Auch habe ich andere Sitten und Gebräuche kennen gelernt.

Für mich aber war die Schweiz fast das Paradies auf Erden, wo es genug und Gutes zu essen gab, wo es auch sonst an Konsumgütern nicht fehlte. Natürlich, auch die menschliche Wärme, Fürsorge und Liebe bedeuteten mir viel."
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Gedenkveranstaltung "Danke Schweiz" in Bern
Freitag, 4. November 2005, um 11.00 Uhr, im Berner Hof

Ansprachen der österreichischen Aussenministerin Ursula Plassnik und der Schweizerischen Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Gezeigt werden in einem dokumentarischen Kurzfilm Erinnerungen an diese Ferienaktion mit einer TV-Grußadresse von Christiane Hörbiger, die 1947 ebenfalls ein "Schweizerkind" gewesen ist.

Im Foyer des Berner Hofes wird zu diesem Anlass eine Gedenkausstellung zu sehen sein, bei der auch das damalige Dankgeschenk der österreichischen Bundesregierung, eine Porzellan-Figurine des Prinzen Eugen aus der Wiener Augarten-Manufaktur, gezeigt wird.
->   Österreichische Botschaft Bern
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Buchtipp
Verschickt in die Schweiz
Kriegskinder entdecken eine bessere Welt
(Damit es nicht verlorengeht..., Band 57)

Hrsg. von Anton Partl und Walter Pohl
2005. 339 Seiten, 16 S. s/w-Abb., Gb.
ISBN 3-205-77426-4
->   Böhlau-Verlag
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Kontakadressen Schweizer Kinder
Oberösterreich: Eva Bruckböck, Grünburgstr. 20 A, 4060 Leonding
Tirol: Peter Jähring, Ing.-Etzel-Str. 57, 6020 Innsbruck
Wien: Edeltraud Deschman, Gregorygasse 47/4/4, 1230 Wien
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Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Universität Wien
Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien
Doku.wirtschaftsgeschichte@univie.ac.at
->   Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
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Schweizerisches Rotes Kreuz
->   Aktion "Danke Schweiz"
 
 
 
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